Selbstversuch
Einen Tag blind: Magdalena (16) macht das Experiment
23. März 2016, 16:50 Uhr
Was ist es für ein Gefühl, seine Augen nicht benutzen zu können? Wie kommt man im Alltag zurecht, wenn man nichts sieht? Verschärfen sich die anderen Sinne, wenn die Augen fehlen? Alles Fragen, die mich schon lange beschäftigen. Ich habe das Experiment gewagt: Ich verbinde mir einen Tag lang die Augen und erlebe die Welt um mich herum blind.
Wie an jedem Wochenende schlafe ich bis kurz vor dem Mittagessen. Nachdem ich aufgestanden bin, verbinde ich mir die Augen mit einem Schal. Das Zähneputzen klappt blind hervorragend - nachdem ich endlich die richtige Zahnbürste und Zahnpasta gefunden habe. Mein Waschgel zu finden, ist noch schwieriger, weil sich die Tuben irgendwie alle gleich anfühlen. Deshalb gebe ich von jeder Tube eine Probe auf meine Hand und schnuppere anschließend daran. Nach dem zweiten Anlauf habe ich mein Waschgel gefunden.
Danach gehe ich in die Küche. Dort setze ich mich auf das Sofa. Normalerweise lese ich jetzt die Zeitung, aber das funktioniert nicht. Ich taste mit meinen Händen nach links und rechts. Rechts von mir liegt meine Hündin Susi, die sich sofort ihre Streicheleinheiten abholt. Dabei bemerke ich, dass jemand den Raum betritt. Am Gang der Person erkenne ich, dass es meine Mama sein muss. Etwas weiter weg von mir öffnet jemand eine Flasche. Für mich ist sofort klar: eine Holunderschorle. Ich bin erstaunt, welche Geräusche ich erkenne.
Zum Mittagessen stehe ich auf und taste mich zum Tisch. Den erreiche ich relativ schnell. Jetzt muss ich nur noch meinen Platz finden. Das klappt hervorragend. Zum Essen gibt es Kartoffeln und Bratheringe. Das mag ich eigentlich ganz gerne. Mama legt mir eine Kartoffel auf den Teller. Dann beginne ich zu tasten. Es handelt sich um ein ziemlich großes Exemplar. Und sie ist ziemlich heiß. Ich schäle sie. Das klappt überraschend gut. Ich höre, dass mir jemand ein wenig Soße des Bratherings auf den Teller schüttet. Dann kann ich loslegen, denn Fisch mag ich keinen.
Ich fange an, die Kartoffel zu schneiden. Das ist ziemlich schwierig. Nachdem ich es geschafft habe, steche ich mit der Gabel herum. Ich wundere mich, dass ich kein Stück von der Kartoffel erwische. Kurz darauf stelle ich anhand des Geräusches fest, dass ich mich mit meinem Besteck gar nicht im Teller befinde. Mama zeigt mir, wo der Teller steht. Trotzdem habe ich große Probleme beim Essen. Entweder ich erwische überhaupt keine Kartoffel oder sie gleitet mir wieder von der Gabel. Mit Ach und Krach bringe ich das Mittagessen dann doch noch über die Bühne. Um meinen Durst zu stillen, probiere ich den Fingertrick aus - denn auch beim Einschenken des Getränks sehe ich heute nichts. Dazu halte ich meinen Finger in die Tasse. So merke ich gleich, dass die Tasse voll ist, wenn er nass wird. Trotzdem habe ich immer Angst, dass ich etwas verschütten könnte.
Etwas später gehe ich in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Den Weg dorthin meistere ich gut. Ich lasse meine Hand an der Wand entlanggleiten und stehe schließlich vor einer Tür. Durch Tasten überprüfe ich, ob es auch wirklich meine Zimmertür ist. An meiner Türe hängen nämlich zahlreiche Sprüche, Warnungen und etliche Hinweise. Ja, es ist meine Tür.
Pullover mit Fransen gesucht
Jetzt geht es ans Klamotten-Zusammensuchen. Ich habe schon im Kopf, was ich anziehen will. Ich taste mich durch meine Klamotten, bis ich meinen Pullover finde. Er ist sehr leicht zu finden, weil er Fransen hat und ich ihn so leicht erspüren kann. Bei den Hosen komme ich auf keinen grünen Zweig. Sie fühlen sich alle gleich an. Schließlich bitte ich meine Mama, mir die restlichen Sachen herauszusuchen.
Zum ersten Mal an diesem Tag wird mir bewusst, dass Blindsein einen sehr einschränkt. Zehn Minuten später bin ich umgezogen. Wäre es ein normaler Tag gewesen, würde ich jetzt mein Handy einschalten und meine Nachrichten überprüfen. Das ist heute nicht möglich.
Fernsehen ohne zu sehen
Ich taste mich bis zu meinem Schreibtisch vor und greife nach meinem Laptop. In diesem Moment hätte ich liebend gerne an meiner aktuellen Geschichte, dem Blutherzog, weitergeschrieben. Wie aber soll ich die Datei öffnen, wenn ich nichts sehe? Ich erlaube mir, den Schal für ein paar Sekunden abzunehmen und das Dokument aufzumachen. Danach binde ich ihn mir wieder um und schreibe blind an meiner Geschichte weiter. Manchmal schreibe ich den ganzen Nachmittag, doch heute macht mir das Schreiben keinen Spaß. Ich sehe nicht, wie viele Fehler ich beim Tippen mache. Es ist ziemlich anstrengend, blind zu schreiben. Der Rest des Tages ist langweilig. Mal höre ich Musik oder ich schaue fern. Aber blind ist das Fernsehen auch nicht besonders spannend.
Der Tag geht zu Ende. Endlich darf ich die Augenbinde abnehmen. Das Experiment war sehr lehrreich, Spaß gemacht hat es aber nicht. Trotzdem bin ich froh über die Eindrücke, die ich an diesem Tag sammeln durfte.