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Lichterloh: Eine Kurzgeschichte über Selbstzerstörung
21. Februar 2020, 13:50 Uhr aktualisiert am 21. Februar 2020, 13:50 Uhr
Der Regen prasselte unaufhörlich und schwer auf sie und ihre Umgebung herab. Dichter, wabernder Nebel schränkte ihr Sichtfeld ein. Riesige, alte Nadel- und Laubbäume umgaben sie und weite, teils ausgetrocknete Wiesen erstreckten sich neben ihr. Es war Herbst, die Blätter auf den Bäumen waren blutrot, golden, orangefarben und hin und wieder so braun wie die Erde auf dem rutschigen, nassen Waldboden.
Äste knackten unter ihren weißen, dreckigen Gummischuhsohlen und Wasser tropfte von ihrem runden Kinn auf ihren durchnässten, weinroten Pullover. Ein kurzes Zittern fuhr durch ihren ausgekühlten Körper. Ihre dunkelgraue Jeans schmiegte sich an ihre weiblichen Kurven und ihre schwarzen Haare klebten an ihren Schläfen und hingen ihr tropfend in die Stirn.
Einzelne, kleine Wassertropfen hatten sich ebenfalls in ihren kurzen Wimpern verfangen und sie blinzelte einige Male, um sie loszuwerden. Die Sommersprossen, die sich kreuz und quer auf ihren Wangen verteilten, waren klar auf ihrer blassen Haut sichtbar und ihre hellblauen Augen bildeten einen starken Kontrast zu ihrem pechschwarzen Haar.
Ihre sonst kirschroten, geschmeidigen Lippen waren spröde und blass. Der durchsichtige, glänzende Nagellack auf ihren Fingernägeln war fast überall abgeplatzt und hinterließ nur die matte Oberfläche ihrer Naturnägel.
Niedergeschlagen starrte sie auf den Boden vor sich. Auf ihrem Gesicht war keine einzige Gefühlsregung sichtbar, obwohl ihr Inneres brannte. Ihre Sterne standen lichterloh in Flammen, aber nicht einmal der kalte Regen war in der Lage, das zu stoppen.
Ihre Unterlippe zuckte kurz und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Hals war trocken und brannte, als sie versuchte zu schlucken. Sie war durchgefroren und müde. Das warme Blut pochte beinahe schmerzhaft unter ihrer blassen Haut und das Herz in ihrer Brust pumpte schnell und schien sich nicht beruhigen zu wollen.
Als das Mädchen eine abgenutzte, gebrechliche Holzbank am Rande des Weges erkennen konnte, ging sie mit schleifenden Schritten darauf zu und ließ sich entkräftet darauf fallen. Die Sitzgelegenheit knarzte warnend, doch die Gedanken des Mädchens waren zu laut, als dass sie irgendwas hören könnte. Die Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in die Hände gestützt, saß sie da. Die Atmung unregelmäßig und zitternd.
Es ist deine Schuld. Warum bist du so?
Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Kopfhaut und Schläfen, ein schwacher Versuch, die Gedanken in ihrem Kopf zu übertönen.
Lächle doch mal mehr. Dieser sture Gesichtsausdruck ist hässlich.
Ein leises Schluchzen entkam ihrer trockenen Kehle. Doch keiner hörte sie. Keiner sah sie, da sie ja nur das freche, fröhliche Mädchen war.
Die zweite Wahl, die Notlösung,
das fünfte Rad am Wagen.
Die Komische.
Die Dumme.
Die Dicke.
Die, die keiner mochte.
Sie hatte sich so sehr bemüht, jeden stets mit offenen Armen und einem Lächeln zu empfangen. Für jeden der Fels in der Brandung, das Rückgrat der Gruppe zu sein. Sie hatte sich verdammt nochmal darum bemüht, die Person zu sein, nach der sie sich selbst schon so lange sehnte. Und das Einzige, was davon übrig blieb, waren dunkle Gedanken und helle Narben. Panikattacken ermüdeten sie tagtäglich und zehrten an der kleinen Menge Kraft, die sie noch übrighatte. Sie fürchtete sich vor ihrer Zukunft, vor der Gegenwart und vor der Vergangenheit.
Die Kälte machte sich nun bemerkbar und zwang sie dazu, sich zurückzulehnen, die Beine an den Körper zu ziehen und die Arme darum zu legen. Ihren Kopf stützte sie auf ihren Knien ab. Ihre Wangen färbten sich rötlich und ihre Lippen hatten einen leichten Blauton angenommen. Sie zitterte und ihre Fingerknöchel traten weiß unter ihrer Haut hervor.
I wish that I could say I'm proud,
I wish that I could shut them out.
Sie hatte es aufgegeben, sich um etwas zu bemühen, das ohnehin nicht halten wird. Freundschaften bestehen doch ohnehin aus Lügen, Schmerz und die Dauer ist beschränkt. Und man benötigte stets einen, der bei einem Streit oder beim Beenden der Freundschaft der Schuldige war. Ich denke, es ist klar, wer bei den zerbrochenen Freundschaften des Mädchens immer der Verlierer war. Der Regen wurde noch stärker und das Mädchen legte kraftlos den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen. Sie gab auf.
Müdigkeit lullte sie ein und ihr schwacher Körper erschlaffte, als die Dunkelheit sich wie eine warme, große Decke um sie hüllte und sie betäubend von der Gegenwart fortzerrte.
Ist es wirklich das, was du dir in deinem tiefsten Inneren wünschst? Den Tod? Das Ende? Die unendliche Dunkelheit? Du hältst den Schmerz nicht aus, die Luft scheint deinen Lungen seit Ewigkeiten zu fehlen, der Wille zu atmen und zu kämpfen, ist längst erloschen. Ich weiß, was du spürst. Ich weiß, wo du bist. Ich weiß, ich verstehe, und ich liebe dich für das, was du jeden Tag machst. Ich liebe dich dafür, dass du aufstehst. Dafür, dass du dich anziehst, und versuchst zu essen. Ich liebe dich dafür, dass du, obwohl du glaubst, bereits aufgegeben zu haben, immer noch kämpfst.
Du sehnst dich nach Ruhe, um das Gefühl von unermesslicher Ermüdung zu behandeln. Auch das ist eine Art zu kämpfen. Ich weiß, dass du es versuchst. Ich weiß, dass du nicht sterben möchtest. Was du dir wünscht, ist Hilfe. Eine Hand, die deine hält und eine Schulter, an der du dich ausweinen kannst, komme was wolle. Hör nie auf zu kämpfen, hör nie auf, für das Richtige aufzustehen. Du bist nicht alleine, du warst es nie. Du hast dich selbst, deinen Glauben, deine Kraft und deine Hoffnung. Auch wenn du meinst, das gibt es nicht: Ist es nicht die Hoffnung, eine Lösung zu finden, warum du das hier liest? Warum du diese Worte aufsaugst, und in ihnen versuchst, den Weg zu finden?
Du bist der Weg.
Du bist die Lösung.
Du selbst bist das,
nach dem du dich so sehr sehnst.