Aktuelles Titelthema aus dem Februar-Magazin

Nesthäkchen, Einzelkind, Sandwichkind


Freistunde hat nachgeforscht, was an den Vorurteilen gegenüber Einzelkindern und Kindern ohne Geschwister dran ist.

Freistunde hat nachgeforscht, was an den Vorurteilen gegenüber Einzelkindern und Kindern ohne Geschwister dran ist.

Sie sind egoistisch, weniger hilfsbereit, können nicht teilen und werden leicht aggressiv: Solche Klischees über Einzelkinder sind nach wie vor verbreitet. Aber was ist dran? Und wie geht es den Einzelkindern selbst damit? Freistunde hat mit Experten und Jugendlichen gesprochen. Fazit: Nichts ist dran an den Vorurteilen - jedenfalls nicht mehr. Sie halten sich einfach besonders hartnäckig. Daher spielen diese Klischees beispielsweise in der Erzieherausbildung eine Rolle - um ihnen zu entgehen. Und: Auch Geschwisterkinder haben mit Vorurteilen zu kämpfen.

Inzwischen leben in vielen Familien Einzelkinder. Wobei die Zahl der Familien mit Kindern generell abnimmt: Nur in etwa 35 Prozent aller Haushalte leben überhaupt Kinder bis 18 Jahre. Davon haben 53 Prozent der Eltern nur ein Kind, 35 Prozent zwei Kinder und nur zehn Prozent drei oder mehr Kinder. Einzelkinder sind nichts Besonderes mehr - aber sie waren es vor einigen Jahrzehnten, und viele hatten damals tatsächlich ein anderes Sozialverhalten. Seitdem hat sich viel geändert. Dennoch hält sich hartnäckig das Klischee vom Einzelkind mit sozialen Defiziten. Dabei haben mehrere Studien inzwischen gezeigt, dass sich Einzelkinder genauso verhalten wie Geschwisterkinder.

Vorurteile ausblenden

Das sehen Sabine Meyer und Erich Schweiger von der Fachakademie Seligenthal in Landshut genauso. An der Akademie werden Erzieher ausgebildet. Das Problem bestehe darin, dass viele Menschen Einzelkinder über einen Kamm scheren, sagt Sabine Meyer, stellvertretende Schulleiterin. Man müsse aber beispielsweise zwischen Einzelkindern aus einer intakten Familie oder Einzelkindern von Alleinerziehenden unterscheiden. Genauso wie bei Geschwisterkindern gibt es viele Faktoren, von denen die Entwicklung abhängt. Das hat bereits Professor Dr. Hartmut Kasten erforscht, Münchner Entwicklungspsychologe und Familienforscher. Ebenso wenig wie es einen Topf Geschwisterkinder gebe, dürfe man alle Einzelkinder in einen Topf werfen. Es komme vielmehr auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind sowie auf Bezugspersonen auch außerhalb der Familie an. Die meisten Einzelkinder haben daher auch kein Problem mit ihrer Situation.

Fabian, 22, zum Beispiel sagt: "Ich bin schon froh, ein Einzelkind zu sein." Allerdings, sagt Meyer, sei es nach wie vor schwer, gegen Vorurteile anzukämpfen. In der Ausbildung lernen die angehenden Erzieher daher, die Kinder möglichst objektiv zu betrachten, nicht daran zu denken, ob sie vielleicht ein Einzelkind vor sich haben. Es gehe darum, keine sogenannten Beobachtungsfehler zu machen, also nicht zu sagen "typisch Einzelkind". Auch Fabian kennt die Klischees. "Meine Freundin sagt schon manchmal ,typisch Einzelkind'", gibt er lachend zu. Seine Freundin hat Geschwister und findet Fabian manchmal egoistisch oder bestimmend, erzählt er. Der Mathestudent selbst sieht das anders. Er fühlt sich nicht anders als andere Jugendliche. Andererseits beschreibt er sich als selbstbewusst und sagt, dass er gern Verantwortung übernimmt - was Studien Einzelkindern tatsächlich zuschreiben. Manchmal, sagt Fabian, sei es schade gewesen, dass nicht immer jemand zum Spielen im Haus gewesen sei, doch dafür habe sich seine Mutter stark um ihn gekümmert. Einen Nachteil habe er jedenfalls nicht erlebt. Ebenso wenig wie Neid oder Vorbehalte von anderen Kindern.

Benachteiligte Sandwichkinder

Vorurteile wie gegen Einzelkinder gibt es übrigens auch gegenüber Geschwisterkindern: So werden beispielsweise die mittleren Kinder auch Sandwichkinder genannt. Auch sie gelten bisweilen als schwierig, und das Max-Planck-Institut Berlin hat ermittelt, dass die mittleren Kinder - rein rechnerisch - fast automatisch zu kurz kommen. Zuerst bekommen die Erstgeborenen alle Aufmerksamkeit, sie sind zumindest am Anfang ja Einzelkinder. Dann bekommen die Letztgeborenen - die Nesthäkchen - die Aufmerksamkeit, spätestens, wenn die anderen Geschwister aus dem Haus sind. Mittlere Kinder müssen immer teilen. Was freilich nicht grundsätzlich ein Nachteil ist, im Gegenteil. Es heißt, sie könnten gut teilen und sie gelten als diplomatisch und ausgleichend. Nesthäkchen neigen laut Studien hingegen eher zur Rebellion. Die Eltern haben sich meist an den älteren Geschwistern abgearbeitet, diese wiederum haben sich ihren Platz schon gesucht. Die Jüngsten brauchen daher wiederum eine Nische und brechen eher aus Konventionen aus.

Füreinander da sein und Halt bieten

Klar ist in jedem Fall: Geschwister können sich gegenseitig einen geschützten Raum geben, können sich gegenseitig stützen. Man spricht von Geschwisterbanden, sagt Erich Schweiger, Psychologe in Seligenthal. Er nennt ein Beispiel: Einzelkinder, deren Eltern psychische Probleme haben, bekommen davon mehr ab als Geschwisterkinder. Bruder oder Schwester können Halt bieten. "Kinder brauchen mehrere Ankerpunkte, um Belastungen zu kompensieren", sagt Schweiger. Er warnt vor Risiken, denen Einzelkinder unter Umständen ausgesetzt sein können: Sie seien beispielsweise manchmal erwachsenenorientierter. Das gelte übrigens auch für Erstgeborene. Zu Einzelkindern zählt man in der Regel alle Kinder, die bis zum Alter von sechs Jahren ohne Geschwister aufgewachsen sind. Die Tendenz der Überforderung sei bei manchen Eltern von Einzelkindern zu spüren. "Ein Kind will immer gefallen", sagt Schweiger. Wenn es sich schon sehr gut ausdrücken kann, gilt das häufig als altklug. Doch damit habe das meist nichts zu tun.


Das Kind merkt einfach, dass das den Eltern gefällt. Die Eltern sollten deshalb darauf achten, diesen Druck zu mildern. Das Kind solle sich nicht mit Erwachsenen, sondern mit Gleichaltrigen messen, sagt Schweiger. Auch Meyer findet: "Der Kontakt zu Gleichaltrigen muss ab dem Kindergartenalter da sein." Prof. Hartmut Kasten sieht das ebenso: "Kinder sind für Kinder ein Lebenselixier", sagt er. Wenn ein Kind immer nur mit den Eltern, also mit Erwachsenen zusammen ist, tut es ihm nicht gut. Fabian fasst das, trotz aller Vorteile, die er hatte, so zusammen: "Manchmal ist es als Einzelkind halt langweilig."

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Verwöhnt, egoistisch und bestimmend: Einzelkinder haben mit vielen Vorurteilen zu kämpfen.

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Sabine Meyer und Erich Schweiger von der Fachakademie Seligenthal in Landshut finden: Einzelkinder und Geschwisterkinder kann man nicht über einen Kamm scheren. (Foto: Filler)