"Zeig doch mehr vor dir"

TESTsbl1_2: Ein Abend bei YouNow: Wie gefährlich die Internetplattform wirklich ist


Sie hip, sie ist schräg, sie lockt Millionen junger Menschen an. Doch ist das alles wirklich alles so harmlos, wie es den Anschein erweckt? Ein Blick hinter die Kulissen der Internetplattform YouNow.

Zu sehen ist ein fremdes Zimmer. Bücher stapeln sich in einem verstaubten Regal, im Bett liegen Kopfkissen und Decke, dazwischen sitzt ein junges Mädchen. "Danke", sagt sie lächelnd. Das wiederholt sie immer wieder. Sie ist gerade live im Netz zu sehen - auf der Internetplattform YouNow.

Warum bedankt sich Vivien (Alle Namen von der Redaktion geändert)? Weil sie Komplimente bekommt. "Du bist richtig hübsch", schreibt ein Nutzer. Ein anderer gibt ihr eine Aufgabe: "Zieh mal eine Grimasse - die lustigste, die du kannst." Vivien streckt die Zunge raus und reißt ihre Augen weit auf. Dann lacht sie laut und streicht sich durch ihre langen braunen Haare. Die 14-Jährige hat sich extra für die Internetplattform YouNow hübsch gemacht. "Ich habe mich heute für euch geschminkt. Wie findet ihr das?", fragt sie ihre Zuschauer. Antworten wie "Voll gut!" oder "Top!" folgen. Auf YouNow können sich junge Menschen live per Videoübertragung im Internet zeigen.

Andere Nutzer beobachten sie und können über ein Chatfenster mit ihnen kommunizieren und Fragen stellen. Bei der 14-jährigen Vivien haben sich rund 300 Zuschauer zugeschaltet. Mindestalter: 13

Jahre Wer den Internetdienst nutzen will, muss mindestens 13 Jahre alt sein. Schwierig ist es aber für Jüngere nicht, den Dienst zu nutzen.Nur eine Frage beim Login soll Jugendlichen unter 13 Jahren den Zugriff auf YouNow verwehren: "Wie alt bist du?" Ein Klick auf "13 oder älter" und schon sind auch Jüngere online. Sehen kann den Live- Stream jeder. Wer aber kommentieren oder selbst ein Video übertragen will, muss sich anmelden. Das geht nur über Facebook-, Twitter- oder GooglePlus-Konten .

Die Streams von Jugendlichen finden Nutzer unter Hashtags. Da gibt es zum Beispiel #deutsch-girl. Darunter ist Vivien gerade die beliebteste. Unter #deutsch-boy sitzen dagegen Jungs vor der Kamera. Mögen Zuschauer einen Jugendlichen besonders gerne, können sie sein Fan werden oder ihm ein "Gefällt mir" geben. Außerdem können sie Szenen aus dem Stream per Snapshot-Funktion festhalten.

Bei den Jungs hat Jan die meisten Zuschauer. Rund 280 Augenpaare beobachten, wie er gerade live durch sein Zimmer zu lauter Musik tanzt. Er hat braune Haare, die er wild nach oben gestylt hat. Außerdem trägt er eine Sonnenbrille und hat sich Hasenzähne aus Pappe angeklebt. Den Zuschauern gefällt's: "Du bist so witzig!", schreibt einer, dazu viele lachende Smileys. Als Jan die Komplimente nach seiner Tanzeinlage durchliest, grinst er zufrieden und bedankt sich. "Es ist schon 21 Uhr. Noch zwei Stunden", kündigt er schließlich an.

Beim Schlafen zusehen

Bei Vivien geht es jetzt aufs Ende zu. "Ich bin müde, Leute! Noch irgendwelche Fragen, bevor ich ins Bett gehe?", ruft sie in die Kamera und reibt sich dann demonstrativ die Augen. "Ich habe eine", schreibt eine Nutzerin. "Warum bist du eigentlich bei YouNow?" Vivien gähnt. Dann zuckt sie mit den Achseln. "Weil mir sonst jeden Abend langweilig wäre", antwortet sie. Die Nutzerin meldet sich wieder zu Wort: "Hast du denn keine Freunde, mit denen du was unternehmen kannst?" Vivien atmet leicht genervt tief ein und aus. "Geht dich nichts an", sagt sie schließlich. "Und jetzt gehe ich offline." Ihre Zuschauer protestieren. "Bleib' doch noch ein bisschen", heißt es im Chatfenster. Vivien kommt eine Idee: "Wollt ihr mir beim Schlafen zuschauen?" Die Zuschauer sind sich einig: "Ja!"

Plötzlich geht die Tür zu Viviens Zimmer auf. Es ist ihre Mutter. Sie ist gut zu erkennen . "Wann gehst du denn ins Bett?", will sie von ihrer Tochter wissen. "Jetzt", antwortet die 14-Jährige. Ihre Mutter verschwindet wieder. Vivien knipst das Licht aus und kriecht unter ihre Bettdecke. Die Kamera lässt sie weiterhin an. Bei Jan ist es ruhig. Der 15-Jährige sitzt vor der Kamera. Das Licht in seinem Zimmer hat er ausgemacht. Mit einer Taschenlampe leuchtet er sich ins Gesicht und erzählt eine Gruselgeschichte. "Wissen eigentlich deine Eltern, was du hier gerade machst?", will eine Nutzerin wissen. Jan unterbricht seine Erzählung. "Ne, aber das interessiert die eh nicht", antwortet er.

Inzwischen ist es nach 22 Uhr. Unter dem Hashtag #deutsch-girl hat jetzt Alina die meisten Zuschauer. Sie ist 15 Jahre alt. "Und in zwei Wochen werde ich endlich 16", plaudert die Jugendliche aus. Sie hat schulterlange, blonde Haare. Sie sind nass. "Warum?", will ein Zuschauer wissen. "Ich hab' mich extra für euch geduscht", ruft Alina in die Kamera und lacht. Dann redet sie über ihre Schule. "Wo wohnst du?", schreibt ein Nutzer. Alina zögert nicht: "In Bayern", antwortet sie. Der Nutzer hakt nach: "Wo genau?" Die 15-jährige verrät, dass sie in München wohnt. Anschließend erzählt sie, was sie am Wochenende macht. Sie plant eine Shopping-Tour mit ihren Mädels. Sie gehen in ihr Lieblingsgeschäft.

"Vielleicht sieht man sich ja dort?! Und jetzt sagt mir, was ich machen soll?", bittet Alina ihre Zuschauer. Sie will eine Show liefern, verspricht sie. Ein Nutzer schreibt: "Zeig doch mehr von dir!" Die 15-Jährige steht auf und geht ein paar Schritte von der Kamera weg, damit sie fast ganz zu sehen ist. Sie trägt einen dunkelblauen Kapuzenpulli und eine enge Jeans. "Kannst du den Pulli mal ausziehen?!", fordert der Zuschauer. Alina liest es und fängt an albern herumzutanzen. Nebenbei zieht sie langsam die Jacke aus. Darunter trägt sie ein schwarzes, enges Top. Die Nutzer, die sie beobachten, freuen sich. "Du hast schöne Brüste", schreibt einer .

"Ich liebe euch alle!"

Zurück zu Jan: Er sitzt still vor der Kamera, trägt wie Alina einen Kapuzenpulli, in dem er sich gerade vergräbt. Er wirkt traurig. "Was ist denn los?", fragt eine Zuschauerin im Chat. "Ich will euch etwas sagen", stottert Jan. "Ich bin so dankbar, dass es euch gibt. Dass ihr mich so unterstützt, fühlt sich so gut an." Herzen überfluten den Chat. Jan formt eines mit seinen Händen. Ein Lächeln huscht über seine Lippen. "Ich werde jetzt offline gehen", sagt er vorsichtig. "Ich liebe euch alle! Gute Nacht!" Weg ist er.

Alina ist auch müde. Sie gähnt. Eine Uhr, die hinter ihr an der Wand hängt, zeigt: Es ist kurz nach Mitternacht. Sie verabschiedet sich. "Morgen bin ich wieder hier - selbe Uhrzeit", verspricht sie. Ihre Zuschauer teilen ihre Vorfreude mit, wünschen ihr dann eine gute Nacht. Da wird das Bild von Alina auch schon schwarz. Ein anderes Mädchen hat jetzt die meisten Beobachter.