Fragen und Antworten
Karlsruhe prüft: Werden Gefangene zu schlecht bezahlt?
27. April 2022, 16:12 Uhr aktualisiert am 27. April 2022, 6:43 Uhr
In den meisten Bundesländern sind Strafgefangene zum Arbeiten verpflichtet. Aber das Geld reicht nicht, um Schulden abzutragen oder Opfer zu entschädigen. Kann so die Resozialisierung gelingen?
Sie müssen arbeiten, aber verdienen weit unter Mindestlohn-Niveau: Strafgefangene bekommen nur einen Bruchteil von dem, was draußen durchschnittlich bezahlt wird. Das mache es unnötig schwer, sich wieder ein normales Leben aufzubauen, kritisieren Fachleute. Jetzt nimmt sich das Bundesverfassungsgericht der Problematik grundsätzlich an - an diesem Mittwoch und Donnerstag wird in Karlsruhe zwei volle Tage verhandelt. (Az. 2 BvR 166/16 u.a.)
Wer klagt?
Zwei Betroffene aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Ein dritter Mann aus Sachsen-Anhalt hat seine Verfassungsbeschwerde kurzfristig zurückgenommen. Die verbliebenen Klagen sind schon seit 2016 und 2017 anhängig. Einer der Kläger, der in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Straubing eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, wollte nach Angaben seiner Anwälte an der Verhandlung teilnehmen, das sei ihm aber untersagt worden. In einer für ihn verlesenen Stellungnahme schildert er, ihm seien aus dem Strafprozess rund 34 000 Euro Gerichtskosten auferlegt worden. Zu Recht. Mit dem, was er verdiene, könne er diese Schulden aber nie abbezahlen. "Das ist ungerecht."
Wie sieht Gefangenenarbeit aus?
Früher war der Justizvollzug bundesweit einheitlich geregelt. Seit der Föderalismusreform 2006 sind die Länder zuständig. In den meisten Bundesländern - auch in Bayern und NRW - gilt für Strafgefangene Arbeitspflicht. "Durch sinnvolle und nützliche Arbeit sollen die Gefangenen an ein auf eigener Arbeit aufgebautes Leben gewöhnt werden", schreibt etwa das bayerische Justizministerium. Ein Teil arbeitet in Eigenbetrieben, ein Teil für externe Unternehmen. Eine dritte Gruppe übernimmt Aufgaben in der JVA und hält das Gebäude sauber, wäscht Wäsche oder hilft in der Küche. Nach Darstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe handelt es sich oft "um einfachste Tätigkeiten mit sehr geringen Anforderungen".
Wie ist die Bezahlung geregelt?
Alle Länder stützen sich auf eine Bezugsgröße aus dem vierten Buch des Sozialgesetzbuchs: das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller gesetzlich Rentenversicherten. Strafgefangene erhalten davon neun Prozent. Dieser Wert ist seit mehr als 20 Jahren unverändert geblieben. Ursprünglich lag er bei nur fünf Prozent - das hatte das Bundesverfassungsgericht 1998 beanstandet. Die neun Prozent wurden 2002 zum ersten und bisher letzten Mal in Karlsruhe überprüft. Mit dem Ergebnis: Der Gesetzgeber habe "die äußerste Grenze einer verfassungsrechtlich zulässigen Bezugsgröße noch gewahrt".
Wie viel Geld ist das ungefähr?
Nach Angaben von Vizegerichtspräsidentin Doris König liegt der Stundenlohn derzeit zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro, das ergebe Tagessätze von knapp 11 Euro bis 18,40 Euro. Die Vergütung ist in fünf Stufen gestaffelt, je nach Leistung und Art der Arbeit. Den höchsten Satz bekommen laut König nur wenige Häftlinge. Außerdem zahlt der Staat in die Arbeitslosenversicherung ein, und Unterkunft und Verpflegung sind für arbeitende Häftlinge kostenlos. Drei Siebtel des Lohns dürfen sie als "Hausgeld" für Einkäufe verwenden. Den Rest müssen sie zunächst als "Überbrückungsgeld" ansparen, für die ersten Wochen in Freiheit. Wer eine gewisse Zeit gearbeitet hat, bekommt einen Freistellungstag. Die Gefangenen können diese Tage sammeln, um früher entlassen zu werden. Es gibt auch eine Art Urlaub.
Warum sind derart niedrige Beträge problematisch?
Wie der Kläger aus Bayern haben Gefangene oft Schulden, nicht nur aus Gerichts- und Anwaltskosten. Viele Verurteilte müssen eine Geldstrafe zahlen oder Opfern Schmerzensgeld und Schadenersatz. Im Gefängnis können sie Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommen. Und auch so fehlt ihnen jede Möglichkeit, eine zurückgelassene Familie finanziell zu unterstützen. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die meisten Gefangenen nicht in die Rentenversicherung einbezogen sind. Eine lange Haft ist kaum zu kompensieren: Selbst wer es schafft, sich nach der Entlassung ein normales Leben aufzubauen, fällt im Alter fast zwangsläufig auf Sozialhilfe-Niveau zurück.
Wie rechtfertigen die Länder die schlechte Bezahlung?
Mit den hohen Kosten und der geringen Produktivität der Häftlingsarbeit. Der bayerische Staat erziele mit den Gefangenen keinen Profit, sagt Marc Meyer, Ministerialrat im Justizministerium. Viele hätten keine Berufsausbildung oder keinen Schulabschluss, und eine größere Gruppe spreche auch nicht gut Deutsch. Dazu kommen Suchtprobleme und psychische Auffälligkeiten. "Die Kosten gehen weit über die Erlöse hinaus", sagt auch Caroline Ströttchen aus dem NRW-Justizministerium. Ein Hafttag koste den Staat knapp 170 Euro.
Was ist vom Verfassungsgericht zu erwarten?
"Arbeit im Strafvollzug ist nur dann ein effektives Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet", heißt es in dem Karlsruher Urteil von 1998. Der Gefangene muss danach erkennen können, dass ihm regelmäßige Arbeit etwas bringt, um künftig eigenverantwortlich und straffrei zu leben. In der Ausgestaltung hat das Gericht dem Gesetzgeber in der Vergangenheit allerdings immer einen weiten Spielraum gelassen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten scheinen die Richterinnen und Richter die Gefangenenvergütung aber nun erneut sehr grundlegend prüfen zu wollen. Das Urteil wird erfahrungsgemäß in einigen Monaten verkündet.