Interview zum Weltkrebstag 2021

Prof. Herr: "Wir diagnostizieren heute viel mehr Krebs"


Eine Computerillustration einer Krebszelle. Dem Regensburger Onkologen Prof. Dr. Wolfgang Herr machen bei der Krebstherapie aktuell vor allem die neuen Medikamente Hoffnung.

Eine Computerillustration einer Krebszelle. Dem Regensburger Onkologen Prof. Dr. Wolfgang Herr machen bei der Krebstherapie aktuell vor allem die neuen Medikamente Hoffnung.

Trotz aller Fortschritte der modernen Medizin ist die Diagonose "Krebs" nach wie vor für die Betroffenen gravierend. Im Interview mit idowa erklärt der Regensburger Krebs-Mediziner Professor Dr. Wolfgang Herr, warum die aktuelle Zahl der an Krebs Verstorbenen in Deutschland möglicherweise irreführend sein könnte, wie die Bedeutung neuer Krebsmedikamente einzuschätzen ist - und, was er sich für die Zukunft der Krebs-Behandlung wünscht.

Professor Dr. Wolfgang Herr ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III am Universitätsklinikum Regensburg, wo man auf Hämatologie und internistische Onkologie spezialisiert ist. Er ist außerdem Gutachter bei mehr als 20 nationalen und internationalen Forschungsförderorganisationen und mehr als 30 internationalen Fachzeitschriften. Zudem ist er Mitglied in diversen wissenschaftlichen Vereinigungen, etwa der Fraunhofer Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und der Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark- und Blutstammzelltransplantation.

231.000 Menschen sind 2019 in Deutschland an Krebs verstorben. Warum erliegen trotz aller medizinischen Fortschritte noch immer so viele Menschen dieser Krankheit?

Professor Dr. Wolfgang Herr: Ich würde das eher andersherum sehen: Betrachtet man die Gesamtheit aller Krebspatienten, so war die Sterblichkeit vor fünf bis zehn Jahren noch deutlich höher und sinkt schon seit etwa 20 Jahren stetig. Das liegt vor allem an besserer Vorsorge, aber auch an besseren Therapien sowohl im chirurgischen als auch im medikamentösen Bereich. Natürlich sinkt die Krebs-Sterberate aber nicht so schnell, wie wir das gerne hätten.

Warum ist Krebs je nach konkreter Ausprägung verglichen mit anderen Krankheiten so schwer zu besiegen?

Herr: Beim Krebs haben wir es meist mit genetisch komplexen und oftmals sehr aggressiven Erkrankungen zu tun, die innerhalb weniger Monate oder Jahre zum Tod führen. Hier ist die gute Nachricht, dass heute durch bessere bildgebende Verfahren und bessere Vorsorge Tumore frühzeitig erkannt und dann operativ entfernt oder mit Medikamenten behandelt werden können. Dadurch sind die Menschen zwar nicht immer automatisch geheilt, aber sie leben deutlich länger - mittlerweile vielfach auch sehr viele Jahre. Wir sprechen dann bei einigen Krebsarten davon, dass die Krankheit zunehmend "chronifiziert" ist. Wir sollten nicht vergessen, dass beispielsweise auch ein hoher Blutdruck oder Diabetes sich nicht einfach so heilen lässt. Wir können diese Krankheiten zwar mit Medikamenten effektiv behandeln, aber am Ende sterben sehr viele der betroffenen Menschen eben doch an Schlaganfällen oder Herzinfarkten. Davon abgesehen ist der Krebs auch deshalb so hartnäckig und mittlerweile auch vielfältig, weil die Menschen immer älter werden - und Krebs ist primär eine Erkrankung des älteren Menschen. Im Alter von 70 oder 80 Jahren tritt der Krebs häufiger auf als bei jüngeren Menschen, was mit der Biologie unserer Gene zusammenhängt: Irgendwann kann der Körper genetische Schäden einfach nicht mehr ausreichend korrigieren.

Sie haben ja gesagt, dass die Sterblichkeitsrate bei Krebs seit längerer Zeit zurückgeht. Laut der bereits genannten Statistik gab es aber seit 1999 einen Anstieg der Zahl von Krebstoten um rund zehn Prozent. Wie passt das zusammen?

Herr: Ein Hauptgrund ist wohl, dass wir heute einfach viel mehr Krebserkrankungen diagnostizieren. Vor 20 Jahren hätte ein Hausarzt einen 80-Jährigen, der ohnehin nicht mehr besonders fit ist, unter Umständen gar nicht zu einer teuren CT-Untersuchung geschickt, mit der dann vielleicht eine Krebserkrankung erkannt worden wäre. Heute haben wir auch deutlich bessere bildgebende Verfahren und erkennen den Krebs deshalb früher. Ich würde also sagen, 1999 sind zumindest nicht weniger Menschen in einem bestimmten Alter an Krebs gestorben als heute - man hat es eben nur seltener gewusst. Zudem kommt auch hier wieder hinzu, dass die Menschen insgesamt Gott sei dank immer älter werden: Heute erhält ein Mensch mit 80 oder 85 Jahren eine Krebsdiagnose, während er vor 20 Jahren vielleicht schon in jüngerem Alter an einer anderen Erkrankung verstorben wäre.

Prof. Dr. Herr (links) hat als Onkologe täglich mit verschiedensten Krebserkrankungen zu tun.

Prof. Dr. Herr (links) hat als Onkologe täglich mit verschiedensten Krebserkrankungen zu tun.

Welche wichtigen Fortschritte hat die Krebstherapie denn in den letzten Jahren gemacht?

Herr: Wir haben in allen Bereichen große Fortschritte gemacht, zunächst bei der Diagnostik und bei der chirurgischen Therapie. Die größten Fortschritte gab es aber definitiv bei den Medikamenten. Hier haben wir jetzt beispielsweise neue Arzneimittel, die das Immunsystem kräftiger machen, so dass der Körper den Tumor selbst bekämpfen kann. Diese sogenannten "Checkpoint-Medikamente" sind revolutionär und bedeuten einen echten Durchbruch in der Krebstherapie. Ihre Entwicklung hat dementsprechend 2018 auch zum Nobelpreis geführt. Außerdem werden Krebserkrankungen heute sehr viel mehr individualisiert betrachtet. Wir stellen nämlich bei genetischen Untersuchungen immer wieder fest, dass Lungenkrebs eben nicht gleich Lungenkrebs ist - dass jeder Krebs also individuell ist und ein eigene Signatur an genetischen Veränderungen mit sich bringt. Hier setzt dann die sogenannte "personalisierte Krebstherapie" an, bei der für immer mehr genetische Veränderungen auch darauf abgestimmte ("spezifische") Medikamente in der Krebsbehandlung eingesetzt werden können.

"Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen"

Gibt es denn aktuell Forschungen, die Hoffnung auf den nächsten großen Durchbruch machen?

Herr: Wir sind aktuell immer noch mitten in der Welle der neuen Immun-Therapeutika, beispielsweise mit den Checkpoint-Antikörpern. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen und bestimmt aktuell auch weiterhin die Forschung genauso wie die therapeutische Landschaft.

Mal etwas in die Zukunft gedacht: Wenn Sie sich einen großen Durchbruch bei der Krebsbehandlung wünschen könnten, was wäre das?

Herr: Dass wir vom Stadium der Chronifizierung, das wir heute ja schon häufiger sehen als früher, auch in die Phase der Heilung kommen. Dass ich meinen Patienten also sagen kann, jetzt ist die Krankheit wirklich komplett überwunden und Sie haben wieder eine ganz normale Lebenserwartung. Das ist auf jeden Fall das entscheidende Puzzleteil, das uns noch fehlt. Als Onkologe sollte man auch heute noch sehr zurückhaltend sein in dem was man sagt, weil man unverändert einen großen Respekt vor dieser Krankheit hat, die es in so vielen Formen gibt und die leider auch oft wieder zurückkommt. Es wäre wunderschön, wenn sich das wirklich ändern würde.

Laut Techniker Krankenkasse sind im Jahr 2020 nur rund 10 Prozent der Männer in Bayern zu einem Krebs-Früherkennungstermin gegangen - im Vergleich der Bundesländer ist das der letzte Platz. Warum ist das so problematisch?

Herr: Ganz einfach, weil der beste Krebs der ist, der erkannt und rechtzeitig entfernt wird. Wir kennen die Darmkrebsvorsorge mit dem berühmten Polyp, der sich dann innerhalb einiger Jahre zum Krebs hin verändert - der sollte zum Beispiel durch die Darmspiegelung frühzeitig diagnostiziert und entfernt werden. Bei den Männern geht es natürlich auch um die Krebsvorsorge beim Prostata-Karzinom, die sollten also auch regelmäßig zum Urologen gehen. Ich glaube aber, dass dieser niedrige Wert im Jahr 2020 auch mit der Corona-Pandemie zusammenhängt: Einerseits hatten die Menschen vielleicht Bedenken vor dem Arztbesuch, andererseits mussten viele Ärzte die Terminvergabe einschränken. Dass allerdings das oft so vorbildliche Bayern in dieser Kategorie bundesweit auf dem letzten Platz liegen soll überrascht mich dann doch.

"Alles meiden, was nach einer Doktrin aussieht"

Die Empfehlungen "nicht zu rauchen" und "wenig Alkohol zu trinken" dürften allgemein bekannt sein, wenn es darum geht, einer Krebserkrankung vorzubeugen. Haben Sie darüber hinaus noch Ratschläge zur Vorbeugung?

Herr: Auf jeden Fall körperliche Bewegung und Sport. Das muss jetzt nicht gleich Leistungssport sein, aber jeder sollte, gerade angesichts unserer heute meist sitzenden Tätigkeiten, für einen gesunden Ausgleich sorgen - egal ob jung oder alt, dick oder dünn. Das hat auf jeden Fall positive Effekte, was die Krebsrate betrifft. Der zweite Punkt ist eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Das muss man in Niederbayern oder der Oberpfalz vielleicht etwas häufiger betonen, aber beispielsweise sollte die Ernährung reich an Ballaststoffen und Vitaminen sein, auch wenn das vielen vielleicht nicht so gut schmeckt. Eher meiden sollte man übertriebene Diäten, das Zusetzen von hochdosierten Vitaminen und Spurenelementen oder das kategorische Weglassen bestimmter Stoffe - also alles, was nach einer Ideologie oder Doktrin aussieht. Am Hauptfaktor kommt man aber leider auch so nicht vorbei, denn der liegt immer noch in unseren Genen. Und je älter wir werden, desto mehr steigt leider die Wahrscheinlichkeit, auch an Krebs zu erkranken. Es gibt niemanden unter uns, der keinerlei Krebsrisiko hat - deshalb ist das auch eine Erkrankung, die uns alle betrifft.