Die einfühlsame Seite der Neuen Sachlichkeit

Aenne Biermann in der Pinakothek der Moderne


Aenne Biermann: Eier, 1931. Silbergelatine-Abzug, 17 x 23,9 cm.

Aenne Biermann: Eier, 1931. Silbergelatine-Abzug, 17 x 23,9 cm.

Von Robert Braunmüller / TV/Medien

Die Pinakothek der Moderne in München wirft einen umfassenden Blick auf das famose Werk der Fotografin Aenne Biermann

München Wie eine blitzende Sichel stößt das Bahngleis in die Landschaft. Manchmal liegen auch gleich mehrere Schienen nebeneinander und erinnern an besonders üppige Armbänder in den Auslagen eines Juweliers. Man kann sich diesen schlichten, klaren Strukturen kaum entziehen. Egal, ob Aenne Biermann im fahrenden Zug schnell auf den Auslöser gedrückt haben muss oder lange auf der Suche nach dem richtigen Moment gewesen ist.

Genauso taucht das Auge sofort ein in die geflammte Blütenunruhe einer Herzblattlilie und selbst in die explosionsartig auseinanderdriftende Rosette einer stachligen Agave. Wer Talent hat, der findet - oder sieht sofort das Entscheidende. Und im Fall der 1898 in der Nähe von Düsseldorf geborenen Aenne Biermann hat noch nicht einmal eine Fotografenausbildung oder eine Kunstakademie nachgeholfen. Sie fing einfach an, in den frühen 1920er-Jahren in Gera, als die Kinder klein waren und sie, die junge Mutter, vermutlich jeden Blick und jede Geste mit der Handkamera festhalten wollte.

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Aenne Biermann: Dame mit Monokel, 1928/29. Silbergelatine-Abzug, 17 x 12,6 cm

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Aenne Biermann: Kinderhände, 1928. Silbergelatine-Abzug, 12,3 x 16,6 cm

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Aenne Biermann: Ficus elastica, 1926-28. Silbergelatine-Abzug, 46,7 x 35 cm.

Diskrete Nähe

Doch auch bei diesen sehr persönlichen Abzügen ist es bald nicht mehr nur das nette Gesichtchen und sind es ebenso wenig die ersten tapsigen Gehversuche, wie sie unzählige Familienalben füllen. Bei Biermann rücken Hände in den Mittelpunkt, die über einem Schulheft gefaltet sind, so, als seien die Hausaufgaben endlich erledigt. Und auch Tochter Helga posiert nicht, wie das Kinder gerne etwas grimassierend tun, sondern schaut nachdenklich in eine ungewisse Ferne. Diese "Betrachtung" von 1930 gehört zu Biermanns bekanntesten Arbeiten, die in fast jedem Band zur Neuen Sachlichkeit abgedruckt sind.

Es ist diese intime und doch immer diskrete Nähe, die auffällt, und mehr noch die Behutsamkeit, mit der die Autodidaktin ans Werk geht, man könnte auch sagen, die "Vertrautheit mit den Dingen" wie es der Titel der Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München betont. Und wenn 1931 in der Kulturzeitschrift "Das Magazin" zu lesen ist, die "vielbeliebte Neue Sachlichkeit verliert unter ihren zarten Händen all ihren Schrecken", dann erzählt das weniger vom Frauenbild der Zeit, als von Biermanns Wirkung und ihrem Erfolgsgeheimnis.

Nach einer ersten Präsentation 1928 im Graphischen Kabinett Günther Franke in München kann sie nur zwei Jahre später bereits auf mehrere große Einzelausstellungen zurückblicken. Zudem sind ihre Porträts und Aufnahmen verschiedenster Gegenstände vom kühl angeschnittenen Korb voller Birnen bis zur Klaviertastatur auf den wichtigen Ausstellungen zur modernen Fotografie zu sehen. Also neben den Werken von Albert Renger-Patzsch, Florence Henri, Karl Blossfeldt, Germaine Krull und den Eheleuten Lucia und László Moholy-Nagy. Dazu widmet ihr der Kunstkritiker Franz Roh eine bemerkenswerte Monografie - die ist eben im Nachdruck erschienen und auf einem Bildschirm in der Pinakothek aufgeblättert.

Erstaunliches wird gezeigt

All die Anerkennungen hindern die unprätentiöse Ehefrau aus dem Großbürgertum übrigens nicht daran, weiterhin an Amateurwettbewerben von Illustrierten oder Fotofirmen wie Agfa teilzunehmen. Und natürlich fragt man sich, wie diese im Grunde steile Karriere weiter verlaufen wäre: ob die Frau mit dem flotten Bubikopf sich wie die Krull und die Henri ganz auf die Fotografie konzentriert hätte. Und was überhaupt aus ihr und ihrem Œuvre geworden wäre in einem Deutschland, das von der Moderne bald nichts mehr wissen wollte und in dem die Nazis nach der Macht griffen - Aenne Biermann war Jüdin.

Eine Entscheidung musste sie nicht mehr treffen. 1931, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, erkrankte die Fotografin schwer, im Januar 1933 starb sie schließlich mit nur 34 Jahren an einem Leberleiden. Ihr Mann und die Kinder konnten in den späten 1930er-Jahren mit ein paar Abzügen im Koffer nach Palästina fliehen. Aenne Biermanns Archiv mit rund 3000 Negativen wurde Ende 1939 nachgeschickt, allerdings in Triest von den Nazis konfisziert. Seither fehlt jede Spur, und es ist Sammlern wie Ann und Jürgen Wilde zu verdanken, dass in München dennoch ganz Erstaunliches gezeigt werden kann.

"Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen", bis 13. Oktober in der Pinakothek der Moderne in München, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr; Katalog 16 Euro