AZ-Filmkritik
"Die Schneiderin der Träume": Lebensfaden in der Hand
20. Dezember 2018, 12:25 Uhr aktualisiert am 20. Dezember 2018, 12:25 Uhr
"Die Schneiderin der Träume" zeigt das harte indische Kastensystem als durch Liebe überwindbar.
"Soll ich Essen servieren"? fragt das Hausmädchen höflich und wird sofort von einer Freundin des Hausherrn angeschnauzt: "Siehst du nicht, dass wir miteinander reden?". In Indien, das sich als größte Demokratie der Welt versteht, gehen die Uhren anders zwischen "oben" und "unten", hoher und niedriger Kaste, jeder an dem ihm zugewiesenen Platz.
Ratna ist Dienerin bei Ashwin, einem jungen Kosmopoliten, dessen arrangierte Hochzeit gerade geplatzt ist und der unter Druck seiner reichen Familie steht, die florierende Baufirma zu übernehmen und bald mit einer neuen Partnerin für Nachwuchs zu sorgen: natürlich innerhalb des gesellschaftlichen Umfelds. Er hat in den USA gelebt, sie kommt vom Land.
Mumbai: Eine Metropole und ein Käfig
Die moderne Metropole Mumbai bedeutet für beide etwas anderes. Für ihn ein goldener Käfig, für sie die Möglichkeit, in der Anonymität eigenständig zu leben. Als 19-jährige Witwe wäre sie auf dem Dorf verloren gewesen.
Sie will ihren Traum verwirklichen, eine Schneiderlehre absolvieren und Mode-Designerin werden. Es dauert lange, bis er den unsichtbaren guten Geist überhaupt wahrnimmt, der still die Wohnung putzt und für sein Wohlergehen sorgt. Ashwin gibt ihr freie Stunden für die Ausbildung und schenkt ihr sogar eine Nähmaschine, fühlt sich angezogen von dieser jungen Frau, die trotz allem Optimismus und Lebensfreude ausstrahlt.
Ein gesellschaftlich akzeptiertes System der Unterdrückung
Ein Liebesverhältnis zu beginnen oder gar öffentlich zuzugeben, wäre allerdings ein Ding der Unmöglichkeit. Wie können Sie trotzdem die unsichtbare Mauer überwinden?
Die moderne Sklaverei der 40 Millionen rechtlosen Hausangestellten, ist schlimmer als das Dargestellte. Dennoch gilt in Indien "Die Schneiderin der Träume" ohne kitschiges Hollywood-Bohei durch die "Mißachtung gesellschaftlicher Strukturen" als Tabubruch, als Affront gegen das weitgehend akzeptierte System von sozialer Ausgrenzung.
In der Tradition von Wong Kar-Wai
In nur wenigen Dialogen, dafür aber um so mehr in scheuen Gesten und Blicken enthüllen sich extreme Machtverhältnisse. So bleibt es beim förmlichen "Sir" und einer Grenze, die sie sich nicht übertreten traut. Wenn sie am Ende ihn am Telefon aber mit Vornamen nennt, gibt es Hoffnung auf ein gemeinsames Leben.
Regisseurin Rohena Gera orientiert sich im langsamen Rhythmus und in der Form an ihrem Vorbild, dem chinesischen Großmeister Wong Kar-Wai, und seinem Werk "In the Mood for Love". Und kommt ihm mit dieser herzzerreißenden und zart-verhaltenen Love-Story nahe.
Kino: Atelier und Monopol (auch OmU), Regie: Rohena Gera (Ind., 95 Min.)