Kultur
Vergänglichkeit und Lebenskraft
30. März 2023, 16:55 Uhr
Sie ist eine stille und zugleich resolute Frau. "Ich liebe die Kraft ‚nein' zu sagen", schwärmt Sol Léon und hat im Gespräch sofort in ihrer Intensität ganz unterschiedliche Betonungsvarianten dieser aus ihrer Sicht enorm wichtigen Meinungsäußerung parat.
Keine Handkrümmung, keine Körperverdrehung, an deren interpretatorischer Farbe und Qualität bei der Probe des Staatsballetts nicht gefeilt wird. Auf die höchst energiegeladene, aber leicht verwackelte Männersolo-Passage folgt ein strenger Kommentar: "Nimm' dir Zeit! Die Schwierigkeit liegt hierin - wie willst Du damit umgehen?" Unsere Arme können eine Textur wie Wasser oder Luft haben, erklärt Léon, "vergleichbar einem Vogel oder einem Delphin". "Stell Dir vor, Du wirst zu Bronze", haucht sie Eline Larrory zu.
Die 20-jährige Französin verinnerlicht das Gesagte und wiederholt die gerade besprochene Bewegungssequenz mit tieferer Strahlkraft. Dabei hat Eline Larrory erst letzten Sommer ihre Ausbildung abgeschlossen. In München tanzt sie seit Spielzeitbeginn - und wurde prompt in ihrer ersten Arbeitswoche für eine der Hauptrollen ausgewählt.
Paul Lightfoot ist ein komplett anderer Menschenschlag. Er nutzt die Probensequenz, um zu einer weiter hinten im Saal abseits übenden Gruppe zu sprinten. Am Ende steht er plötzlich vor der sich Notizen machenden Zuschauerin und schüttelt ihr herzlich die Hand: "Hi, I am Paul". Einen Atemzug später sieht man ihn durch die Tür verschwinden.
Mehr als 35 Jahre lang haben Sol Léon und Paul Lightfoot das Nederlands Dans Theater maßgeblich mitgeprägt. 1989 begründeten der Brite und die Spanierin das Choreografen-Duo Léon/Lightfoot als eine gleichberechtigte Partnerschaft. Gemeinsam kreierten sie mehr als 60 Stücke für die berühmteste zeitgenössische Kompanie der Niederlande, deren Leitung Lightfoot 2011 übernahm - mit Léon als künstlerischer Beraterin. Seit drei Jahren arbeiten sie freischaffend, der zweiteilige Ballettabend "Schmetterling" ist ihre erste Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsballett.
Die Stimmung im Studio bleibt konzentriert und irgendwie familiär locker. Dabei strotzt die Choreografie vor technisch kniffeligen Herausforderungen. Unglaublich modern nimmt sich das Bewegungsvokabular aus. Die individuell starken Tänzer der Compagnie - allen voran Laurretta Summerscales als buckelige alte Lady in "Schmetterling" - kommen einem völlig verwandelt und in ihren Charakteren grandios umgekrempelt vor. Schier geblendet von der enorm beredten Emotionalität, die hier bereits mimisch und gestisch ebenso reich wie theatralisch aufgeladen ausgespielt wird, verlässt man den Saal.
Im Gespräch umschreibt Sol Léon die schöpferische Zusammenarbeit als die zweier Gehirne - eines männlichen, eines weiblichen - in einem Haushalt. "Paul hat diesen Push, diese Stärke - er bewegt, schiebt Dinge an, wirft sie um. Ich bin viel ruhiger, brauche meine Zeit, mag keinen Lärm im Raum, will es auf meine Weise machen. Es wurde nur schwerer, als wir uns privat trennten. Da kam die Unsicherheit mit in den Raum hinein, Verletzlichkeit in der Situation."
Jedes ihrer spannungsgeladenen Ballette gleicht folglich einem Amalgam all dieser charakterlichen Gegensätze. Im Vorfeld kannte Léon weder Laurent Hilaire, Münchens noch neuen Ballettchef, noch dessen Vorgänger. Igor Zelensky war eigens nach Holland gekommen, um zu fragen, ob sie Interesse an einer Zusammenarbeit hätten. "Ausschlaggebend für mich war, dass ich eine Verbindung zur Stadt hatte. Wohl 1989 tanzten wir im Nationaltheater Kyliáns ‚Sinfonietta'. Ich erlebte das Haus als bedeutend und habe das so in Erinnerung behalten. Aus diesem Grund haben wir zugesagt - trotz großem Risiko und der Strenge, die wir normalerweise walten lassen, wenn wir eine Arbeit hergeben."
Seit Ende Februar studieren Léon und Lightfoot unterstützt von fünf Ballettmeistern aus ihrem Team ihre beiden Werke mit einem neuen Ensemble ein. Inspirationsquelle für das 2005 uraufgeführte "Silent Screen" war die dem Tanz anverwandte nonverbale Verständigung in Stummfilmen und Friedrich Wilhelm Murnaus 1927 in Amerika gedrehtes Liebesdrama "Sonnenaufgang - Lied von zwei Menschen". Auf der Bühne kommen Aufnahmen vom Meer, einem Wald und einem Innenraum zum Einsatz. Tänzer und Film verschmelzen. Obwohl sie sich keinesfalls als Geschichtenerzähler sehen, wurde dem Stück ein Storyboard zugrunde gelegt, laut dem ein Paar zu Musik von Philip Glass traumartig verschiedene Phasen einer Beziehung durchleben lässt.
"Unsere Tochter, die da im Bild durch den Wald läuft, war damals sechs Jahre alt. Nun ist sie 24 und gehört derselben (Frauen-)Generation an wie die Tänzerin Eline Larrory", sagt León. Sie zog mich an - ich hätte meine Tochter sehen können, die jetzt Schauspielerin ist. Ihre Frische und ihre Offenheit inspirierten mich."
Dass Larrory ganz neu im Ensemble war, erfuhren sie erst danach. "Auch auf Laurretta zu treffen war wunderbar. Sie ist außergewöhnlich. Nicht viele Tänzerinnen können die alte Frau tanzen." Léon wusste genau, nach was sie Ausschau hielt. "Hat man die wesentlichen Charaktere beisammen, ergibt sich der Rest von selbst."
"Silent Screen" entstand vor 18 Jahren. Es soll eine zeitliche Brücke zwischen den Generationen schlagen. "Außerdem rückt ‚Silent Screen' die Weiblichkeit in den Fokus - auf eine sehr poetische Art und Weise", sagt Léon. "Ich liebe die drei Stadien des weiblichen Lebens, vom Mädchen über die Mutter bis hin zu einer alten Dame. Das findet auch in "Schmetterling" seinen Ausdruck."
Diese zweite, dem Premierenabend titelgebende Arbeit "Schmetterling" entstand 2010, kurz nach dem Tod von Pina Bausch. Es geht darin um die Beziehung einer Mutter zu ihrem Sohn. "Wir entschlossen uns dazu in einer schwierigen Phase, als Paul und ich unsere Eltern verloren. Ich fühlte, dass meine Mutter gehen würde. Da wird man als Kind zum Erwachsenen über ein Elternteil. Das widerfährt jedem."
Musikalisch angetrieben durch Kompositionen von Max Richter und Love Songs der Indie-Rock-Band Magnetic Fields bringen Léon und Lightfoot ein Panoptikum kuriosester Typen zum Tanzen. Die Klammer dieses Abends ist das Leben in seiner Vergänglichkeit, der Tod aber auch neue Lebenskraft.
Premiere heute, 19.30 Uhr im Nationaltheater, auch am 2., 21., 28., 29. 4., mit ca. 20 minütiger Einführung 1 Stunde vor Beginn. Karten unter Telefon 2185 1920 und tickets@staatsoper.de