Coronakrise
Vittorio Magnago Lampugnani über die Stadt nach der Pandemie
7. August 2020, 17:03 Uhr aktualisiert am 7. August 2020, 17:03 Uhr
Epidemien haben sich immer auch auf die Stadtplanung ausgewirkt. Und nun? Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani plädiert für langfristige Korrekturen über die Krise hinaus
Restaurants auf der Straße, Open-Air-Konzerte, Kino im Park - nach draußen zu gehen, ist in Zeiten von Corona eine nahe liegende Lösung. Doch wenn der Sommer vorbei ist und das Virus weiter wütet, sind neue Ideen gefragt. Denn dass sich Menschen begegnen können, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Architektur, meint der Städtebauexperte Vittorio Magnago Lampugnani. Ein Gespräch über Dichte und Flächenfraß, Gier, Gemeinschaftssinn und die Lehren aus der Krise.
AZ: Herr Lampugnani, an den Architekturfakultäten werden bereits "Corona-sichere" Räume entwickelt. Das hat meistens noch etwas Schräges, Spielerisches. Müssen Architekten umdenken?
VITTORIO MAGNAGO LAMPUGNANI: Ich würde eher sagen, sie müssen weiterdenken. Der Notstand der Pandemie sollte uns allen die Augen öffnen für das, was wir falsch gemacht haben und immer noch falsch machen. Aber die Korrekturen am Status quo müssen über die Corona-Zeit hinaus gehen.
Wie sieht sinnvolles Bauen dann aus?
Bauen darf sich nicht an aktuellen Umständen orientieren. Bauen ist langfristig. Unsere Räume müssen Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang Bestand haben. Und Bauen ist da, wo es mehr ist als nüchterne Bedürfniserfüllung, optimistisch, sogar idealistisch. Wir müssen für ein Leben bauen, wie wir es uns erhoffen, nicht für eines, das wir ertragen.
Die Pandemie wird uns noch eine Weile beschäftigen, das hat unser Zusammenleben teils schon verändert. Wird sich nicht auch die Stadt wandeln?
Der Covid-19-Notstand wird gern instrumentalisiert, um die alte Polemik gegen die Stadt wieder zu schüren. Auch, um die Neigung zu rechtfertigen, sich jeden Nachbarn möglichst weit vom Leib zu halten. Aber das Loblied des Landlebens und der Privatheit führt zu nichts in einer Welt mit knapp acht Milliarden Menschen. Und die neue Stadt, die beschworen wird, ist nichts als die alte Gartenstadt oder - zugespitzt - Suburbia.
Was schlagen Sie vor?
Anstatt gescheiterte Modelle aus dem Keller zu holen, die einer modernen, industrialisierten, einigermaßen gerechten Gesellschaft nicht würdig sind, sollten wir versuchen, von der Pandemie-Apokalypse positive Impulse aufzunehmen. Hat uns die Zeit der Vereinzelung nicht gelehrt, den Kontakt zu anderen Menschen mehr zu schätzen? Das Angewiesensein auf unsere Wohnungen, ihr Verbesserungspotenzial zu erkennen? Der Blick auf unsere von Menschen und Fahrzeugen leer gefegten Städte, rücksichtsvoller mit ihnen umzugehen und ihre Schönheit zu schätzen und zu verteidigen?
Die historische Stadt war auf Dichte angelegt, jetzt ist die Nähe eben heikel geworden.
Dichte ist immer noch die Voraussetzung für eine gut funktionierende Stadt mit hoher Lebensqualität für alle. Und die Nähe ist kein Problem, im Gegenteil. Nur müssen wir im Augenblick mit ihr in der Tat vorsichtig umgehen, so lange die Ansteckungsgefahr virulent bleiben wird.
Deshalb sitzen in Restaurants, Theatern oder Kinos wenige Besucher in gebührendem Abstand. Stellt sich nur die Frage, wie lange wir das finanziell durchhalten.
Ja, die wirtschaftlichen Konsequenzen sind erschreckend. Aber wir wissen seit langem, dass wir mit weniger Ressourcen auskommen müssen. Auch mit weniger Geld. Die Frage ist allerdings, wie es verteilt wird. Es sollten nicht die Kleinen unproportional unter der Krise leiden und möglicherweise sogar aufgeben müssen.
In vielen Stadt- und Unternehmensgremien wird gerade intensiv über Baustopps nachgedacht.
Wir müssen vorsichtig sein, aber wir dürfen nicht in Angst erstarren. Auch nicht vor der wirtschaftlichen Krise. Ich kann nachvollziehen, dass bei Büroneubauten gezögert wird, vor allem, weil nicht abzusehen ist, inwieweit das pandemiebedingte Home-Working nicht auch jenseits des Notstands zur Regel wird. Persönlich glaube ich nicht daran, die meiste Arbeit ist auf Austausch mit Kolleginnen und Kollegen angewiesen und ohne diesen Austausch trist. Aber wenn wir die Kindergärten und Schulen, die Museen und Theater, die traditionellen Geschäfte und die kleinen Restaurants verkommen lassen und irgendwann sogar schließen, geben wir unsere Städte auf.
Vor nicht allzu langer Zeit galt Nachverdichtung als eine Art Zauberlösung. Interessanterweise fällt der Begriff kaum noch.
Ach, die Modewörter der Stadtplanung. Nachverdichtung war nie eine Zauberlösung und ist es auch heute nicht. Jede Stadt, jedes Quartier braucht eine besondere Strategie.
Wenn viel Wohnraum benötigt wird, gehen Städte nach Möglichkeit in die Breite. Das dürfte kaum im Sinne einer nachhaltigen, ökologischen Planung sein?
Ganz im Gegenteil. Und wenn wir nicht ökologisch umdenken, radikal umdenken, werden wir uns selber noch viele Pandemien bescheren. Diejenigen, die heute nach mehr Raum für soziale Distanziertheit rufen, wollen sich mit der Wirkung arrangieren; es müssen aber die Ursachen bekämpft werden. Wir kennen sie alle: Raubbau, Entwaldung, Umweltverschmutzung, Landschaftszerstörung. Dass in der Vernichtung der Biodiversität der Ursprung der Pandemien liegt, ist seit Jahrzehnten bekannt. Wir können dazu beitragen, deren Risiko zu vermindern, indem wir der entfesselten Urbanisierung Einhalt gebieten. Also am Prinzip der kompakten Stadt festhalten. Sie ist nicht nur die Stadt der Geselligkeit und des Gemeinschaftssinns, sie ist auch die Stadt der kurzen Wege und der minimierten Zwangsmobilität, die Stadt des geringeren Energieverbrauchs, die Stadt des sparsamen Umgangs mit der Landschaft.
Wie sollte diese kompakte Stadt aussehen?
Alle unsere historischen Städte, so unterschiedlich und vielfältig, wie sie sind, sind kompakte Städte. Ich meine: unsere Innenstädte. Sie sind dicht und dabei nicht beengt, haben Häuser, die sich nicht voneinander abwenden, sondern miteinander sprechen, und dazwischen Gassen, Straßen, Plätze, Alleen, Parkanlagen. Sie sind die Modelle, an denen wir uns orientieren müssen.
Kann das eine Stadt wie München mit jährlich Tausenden von neuen Bürgern überhaupt umsetzen?
Ich sage nicht, wir dürfen unsere Städte nicht erweitern. Ich sage nur, wir müssen sie kompakt erweitern. Nicht mit Siedlungen, sondern mit neuen Stadtquartieren. So können wir vielleicht auch erreichen, dass die Stadterweiterungen, dass die urbanen Peripherien ähnlich attraktiv werden wie die Innenstädte.
In diesen attraktiven Innenstädten wird inzwischen vor allem luxussaniert.
Die zentral gelegenen Luxuswohnungen werden weiterhin entstehen, und die Menschen mit niedrigen Einkommen werden weiterhin verdrängt und benachteiligt. Es sei denn, wir ziehen aus der Pandemie, die ja die Benachteiligten und die Minoritäten besonders getroffen hat, die Lehre, dass die Schwächeren mehr Schutz brauchen. Und dass die Stadt, wenn sie Ort der Vielfalt und der Integration bleiben soll, sie dringend braucht.
Müssen wir vielleicht auch den Begriff Eigentum neu denken?
Wir müssen den Begriff Wohnungsmarkt neu denken. Er kann nicht dem Gesetz von Angebot und Nachfrage überlassen werden, sondern muss Teil einer Stadtstrategie sein. Einer Strategie, die Stadt nicht primär als Profiterzeugungsmaschine begreift, sondern als sozialen Ort.
Krisis bedeutet ursprünglich auch Entscheidung. Wie sieht die Stadt, wie sollte die Stadt der Zukunft aussehen?
Die Frage ist, wie die Welt der Zukunft aussehen sollte. Sie sollte eine Welt sein, in der wir mit der Natur besonnen und respektvoll umgehen. Tun wir das nicht, wird das katastrophale Konsequenzen für unser Klima, für unsere Gesundheit und für unseren gesellschaftlichen Frieden haben. Die Städte sind nur ein Teil im Puzzlespiel unseres bedrohten Ökosystems, aber kein unwichtiger: Sie machen, alles zusammengezählt, gegenwärtig knapp 50 Prozent der Umweltbelastung weltweit aus. Sie müssen dringend nachhaltiger werden. Und das heißt: sparsamer, dauerhafter, kompakter.
Ist das nicht Wunschdenken? Die ökonomischen Interessen sind letztlich doch immer stärker, und sie haben die Form der Verstädterung erzeugt, gegen die Sie antreten.
Erzählen Sie mir bitte nichts von ökonomischen Zwängen. Gerade jetzt wird uns mit unerbittlicher Deutlichkeit vor Augen geführt, wie exzessive Gier zu unabsehbaren Verlusten führt. Die Wirtschaft kann sich die Umweltzerstörung gar nicht leisten - auch nicht jene durch Bauen.