Frankfurt am Main
Die Angst vor der Deflation: Wie gefährlich sind sinkende Preise wirklich?
20. November 2015, 9:21 Uhr aktualisiert am 20. November 2015, 9:21 Uhr
Inflation ist unbeliebt, vor allem in Deutschland. Deflation, also fallende Verbraucherpreise, klingt weniger unangenehm.
Während sich Verbraucher über niedrige Preise freuen, bereiten sie Notenbankern Kopfzerbrechen. In den Industrieländern kleben die Teuerungsraten an der Nulllinie. Ein Ende ist vorerst nicht in Sicht, räumte der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, kürzlich in Brüssel ein. Er will deshalb die Geldschleusen noch weiter öffnen. Auch in Japan, Großbritannien und Australien ist ein Ende des billigen Geldes nicht in Sicht. Dadurch sollen sinkende Preise auf jeden Fall vermieden werden. Aber ist die Sorge vor einer Deflation überhaupt berechtigt? Unter Experten gibt es zunehmend Zweifel, auch innerhalb der Zunft der Notenbanker.
"Die Angst vor der Deflation ist ein altes Mantra", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Die Sorgen seien "total übertrieben". Zumindest eine begrenzte Deflation wäre unschädlich. Derzeit liegt die Teuerung im Euroraum mit 0,1 und in Deutschland mit 0,3 Prozent im positiven Bereich. Allerdings ist das weit von den durch die EZB angestrebten zwei Prozent entfernt, die als eine Art Sicherheitspuffer gelten, der die Euro-Volkswirtschaft vor sinkenden Preisen bewahren soll.
Hinter der Angst der Notenbanker vor der Deflation steht folgender Gedanke: Sinken die Preise, dann werden Unternehmen von Investitionen abgehalten, während die Arbeitnehmer nicht bereit sind, Lohnkürzungen hinzunehmen. Das schwächt die Produktion und erhöht die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft gerät in eine Abwärtsspirale.
Ein Blick in die Historie scheint dieses Szenario zunächst zu bestätigen: In den USA hatte die Deflation während der "Großen Depression" in den 1930er Jahren fatale Folgen für die Wirtschaft. Aber: Der Fall sei nicht repräsentativ, heißt es in einer Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vom Frühjahr. Es habe seit den 1930er Jahren viele weitere Deflationsphasen gegeben, bei denen die Wachstumsschäden viel geringer gewesen seien.
Mitunter geht Deflation sogar mit Wachstum einher. Jüngstes Beispiel ist Spanien: Die Teuerungsrate lag seit Sommer 2014 nicht mehr über der Nulllinie, aktuell beträgt sie minus 0,9 Prozent. Gleichzeitig gehört Spanien zu den wachstumsstärksten Ländern Europas. Im dritten Quartal 2015 legte die Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr um 3,4 Prozent zu.
So gibt es auch unter Notenbankern Zweifel an der Deflationsangst. Die Arbeitsmärkte seien flexibler als oft angenommen, sagte der indische Notenbankchef Raghuram Rajan im Interview mit der "Börsenzeitung". Und: "Die Zentralbanken sollten sehr gewissenhaft darüber nachdenken, ob Deflation etwas ist, das so heftig bekämpft werden muss, wie sie es tun."
Zu allem Überfluss zweifeln Experten auch noch daran, ob die Notenbanker überhaupt Einfluss auf das Preisniveau haben. "Es lässt sich bislang kein Effekt durch die Geldpolitik auf die Inflation beobachten", sagt Guillaume Rigeade, Fondsmanager beim Vermögensverwalter Edmond de Rothschild, mit Blick auf den Euroraum. Die Nullzinspolitik und die milliardenschweren Anleihekäufe der EZB hätten die Preise nicht anziehen lassen. Die schwache Preissteigerung sei vor allem auf die niedrigen Ölpreise und die globale Konjunkturflaute zurückzuführen. "Darauf hat die EZB keinen Einfluss."
Dennoch: Selbst die Kritiker rechnen nicht damit, dass die Notenbanker von ihren offiziellen Inflationszielen abrücken werden. Denn bei der lockeren Geldpolitik gehe es auch darum, die heimischen Währungen zu schwächen und dadurch die Exporte anzukurbeln. Außerdem stünde die Glaubwürdigkeit der Notenbanken auf dem Spiel. Und nicht zuletzt haben die meist hoch verschuldeten Staaten ein großes Interesse an höheren Inflationsraten. Denn umso mehr die Preise steigen, desto stärker schrumpfen die Schulden im Verhältnis zum Preisniveau. Und das freut die Finanzminister fast aller Länder.