"Zweifelsfreier Nachweis"
Bundesregierung: Nawalny wurde vergiftet
2. September 2020, 17:56 Uhr aktualisiert am 2. September 2020, 19:15 Uhr
Dieses Untersuchungsergebnis aus einem Labor der Bundeswehr wird die Beziehungen westlicher Staaten zu Russland wahrscheinlich erschüttern: Der russische Regierungskritiker Nawalny soll mit einem Nervenkampfstoff vergiftet worden sein. Erinnerungen an einen früheren Fall werden wach.
Der russische Regierungskritiker Alexej Nawalny ist nach Untersuchungen eines Spezial-Labors der Bundeswehr mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden. Die Labortests hätten den "zweifelsfreien Nachweis" darüber erbracht, teilte die Bundesregierung am Mittwoch mit. Regierungssprecher Steffen Seibert sprach von einem "bestürzenden Vorgang".
Merkel: "Er sollte zum Schweigen gebracht werden"
Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte am Mittwochabend eine Erklärung Moskaus. "Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt", sagte die CDU-Politikerin in Berlin. "Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss." Das Schicksal Nawalnys habe weltweite Aufmerksamkeit erlangt. "Die Welt wird auf Antworten warten." Merkel erklärte, das Bundeswehr-Speziallabor habe einen klaren Befund geliefert: "Alexej Nawalny wurde Opfer eine Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Dieses Gift lässt sich zweifelsfrei in den Proben nachweisen. Damit ist sicher: Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden." Dies verurteile sie auch im Namen der ganzen Bundesregierung auf das Allerschärfste. Nawalny wird derzeit noch immer in der Berliner Charité behandelt.
Gemeinsam mit den Partnern in der Nato und in der EU werde man nun beraten und "im Lichte der russischen Einlassungen über eine angemessene, gemeinsame Reaktion entscheiden", sagte die Kanzlerin. "Das Verbrechen gegen Alexej Nawalny richtet sich gegen die Grundwerte und Grundrechte, für die wir eintreten."
Maas: Russland muss Verantwortliche finden
Das Auswärtige Amt bestellte den russischen Botschafter Sergej Netschajew ein, um Russland zu einer Stellungnahme aufzufordern. "Ihm wurde dabei nochmals unmissverständlich die Aufforderung der Bundesregierung übermittelt, die Hintergründe dieser nun nachweislichen Vergiftung von Alexej Nawalny vollumfänglich und mit voller Transparenz aufzuklären", sagte Außenminister Heiko Maas (SPD). Russland müsse die Verantwortlichen ermitteln und zur Rechenschaft ziehen.
Das Untersuchungsergebnis könnte die ohnehin schon schwer angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie anderen westlichen Staaten noch einmal massiv erschüttern. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp.
Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die Bundesregierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an. Man werde in den nächsten Tagen darüber beraten, wie man darauf "angemessen reagieren" könne, sagte Maas. "Darüber werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich verhält." Die Bundesregierung informierte auch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) über den Labor-Befund. Der Konvention für die Ächtung von Chemiewaffen ist auch Russland beigetreten.
Deutsch-russische Beziehungen ohnehin belastet
Nawalny, der am 20. August auf einem Flug in seiner Heimat plötzlich ins Koma gefallen war und zunächst in Omsk untersucht wurde, wird auf Drängen seiner Familie in der Charité behandelt. Die deutschen Ärzte gingen nach einer Auswertung von klinischen Befunden bereits davon aus, dass Nawalny vergiftet wurde. Die russische Regierung hatte die Einschätzung der Berliner Charité, dass Nawalny vermutlich vergiftet wurde, als vorschnell bezeichnet. In der vergangenen Woche hatte die russische Regierung um die Übermittlung der Untersuchungsergebnisse gebeten. Ob das geschehen ist, wollte das Bundesjustizministerium am Mittwoch nicht sagen.
Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und Russland sind ohnehin schon schwer belastet. Das liegt unter anderem an dem Mord an einem Tschetschenen mit georgischer Staatsbürgerschaft im Kleinen Tiergarten in der Nähe des Berliner Regierungsviertels. Er hatte vor knapp einem Jahr eine Krise in den deutsch-russischen Beziehungen ausgelöst. Die Bundesanwaltschaft erhob Mitte Juni Anklage gegen den mutmaßlichen Täter, der in Untersuchungshaft sitzt. Sie geht davon aus, dass er mehr als einen Monat vor der Tat von "staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" beauftragt wurde. Der Prozess soll am 7. Oktober beginnen.
Daneben ist die Bundesregierung verärgert über einen weiteren Fall, mit dem sich die Bundesanwaltschaft derzeit befasst: die bisher größte Cyber-Attacke auf den Bundestag im Mai 2015. Rechner in zahlreichen Abgeordnetenbüros waren damals mit Spionagesoftware infiziert worden, darunter auch Computer im Bundestagsbüro der Kanzlerin. Die Karlsruher Ermittlungsbehörde hat einen internationalen Haftbefehl gegen einen jungen russischen Hacker erwirkt. Ihm wird geheimdienstliche Agententätigkeit und das Ausspähen von Daten vorgeworfen. Merkel hat den Angriff als "ungeheuerlichen" Vorgang bezeichnet.