Interview
Prof. Maćków: „Die Zukunft der Union hängt am seidenen Faden“
4. Juli 2019, 19:40 Uhr aktualisiert am 5. Juli 2019, 11:35 Uhr
Wie sehr haben die Personalrochaden in Brüssel dem Ansehen der Europäischen Union geschadet? Welche Probleme legen die Vorgänge der vergangenen Tage bloß? Und was sind die Perspektiven? Professor Jerzy Maćków, Lehrstuhlinhaber für vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa an der Universität Regensburg, über Retourkutschen, die Personalie Ursula von der Leyen und das Dilemma der EU.
Herr Professor Maćków, waren Sie selbst überrascht über die Entwicklungen im Hinblick auf das Personal für die zentralen Positionen auf EU-Ebene?
Jerzy Maćków: Die konkrete personelle Ebene kannte natürlich niemand, absolut niemand. Ich bin aber davon ausgegangen, dass es gewaltige Probleme mit der Durchsetzung der Liste geben wird, die in Osaka beschlossen worden ist. Und zwar weil die zwei Gruppierungen, also die Volkspartei und die Sozialisten, doch die Wahlen verloren haben - in dem grundsätzlichen Sinne, dass sie weniger Stimmen erhalten haben. Sie dominieren nicht mehr in diesem Umfang das Parlament. Das ist eine Situation, die diese personellen Fragen zunächst wesentlich weniger wichtig erscheinen lässt. Wir haben nicht mehr zwei Fraktionen, die europäische Entscheidungen, die de facto durch zwei Länder oder durch Deutschland bestimmt werden, einfach absegnen. Diese Zeit ist vorbei. Übrigens: Es ist noch glücklicher gelaufen, als erwartet. Das Wahlergebnis hätte noch schlimmer kommen können.
Was war Ihrer Meinung nach der entscheidende Grund, weshalb sich Manfred Weber als Kommissionspräsident nicht durchsetzen ließ?
Maćków: Die Antwort ist aus meiner Sicht einfach. Angela Merkel braucht die Unterstützung der Sozialisten. Wenn sie sich nur auf die Volkspartei, also ihre Parteifamilie, verlässt, funktioniert das nicht. Das heißt, sie braucht diese zweite Gruppierung auch. Das ist die halbe Antwort. Die andere Hälfte ist: Innerhalb der Volkspartei ist der Widerstand gegen Merkel gewaltig. Auch von deutschen Abgeordneten. Und zwar weil sie in alter Manier, die Entscheidung getroffen hat, dass doch ein Sozialist der Kommissionspräsident sein soll. Das hat sie so gemacht, wie sie es immer gemacht hat. Aber ihre Position sowohl in Deutschland als auch in der Fraktion ist miserabel. Merkel ist ein Auslaufmodell. Der generelle Widerstand verwundert überhaupt nicht. Was verwundert, ist, dass auch so viele deutsche Abgeordnete ganz offen, etwa auf Twitter, gegen diesen Osaka-Deal gewettet haben. Und zwar aus ihrer Fraktion.
"Der generelle Widerstand verwundert überhaupt nicht"
Nun wird ja vielfach auch der französische Präsident Macron als ausschlaggebend für die tatsächlichen Personalentscheidungen gesehen. Manfred Weber wäre doch Kommissionspräsident geworden, wenn Macron zugestimmt hätte…
Maćków: Ja, das stimmt. Aber warum soll Macron, dessen Bewegung bei den Liberalen angesiedelt ist, sich so einfach auf die Seite von Deutschland stellen, wenn man weiß, dass Deutschland seine Reformvorschläge der Europäischen Union abgelehnt hat beziehungsweise überhaupt nicht diskutiert hat. Warum soll Macron, der sozusagen einige Male blamiert worden ist, sich jetzt so billig zu den Fraktionen zu gesellen, die versucht haben, in alter Manier zu bestimmen, was in der Union abläuft. Nochmal: Diese Fraktionen hatten früher die Mehrheit im Parlament, jetzt haben sie sie nicht mehr. Es gibt daher nicht mehr die Möglichkeit, im Hinterzimmer Entscheidungen zu treffen, und sich die dann von zwei Fraktionen, die eigentlich gegeneinander antreten müssten, also von Sozialisten und Christdemokraten, absegnen zu lassen. Was man gesehen hat, war ein sehr langer Prozess der Unterwanderung des politischen Wettbewerbs in der EU. Wie übrigens auch in Deutschland mit der großen Koalition.
Stichwort "Retourkutsche"
Das heißt, es geht dann in Bezug auf Macron auch möglicherweise um eine Art Retourkutsche?
Maćków: Retourkutschen gibt es dann, wenn man sie sich leisten kann. Das Entscheidende ist die Schwächung von Merkel. Sowohl die innenpolitischen als auch die außenpolitischen Akteure in Deutschland sehen, dass diese Frau abgeht. Dass sie de facto schwach ist. Und dann kommt der Widerstand in ihrer eigenen Fraktion. In dieser Situation können dann Retourkutschen verpasst werden. Wäre Merkel in einer anderen Situation, dann hätte Macron, der Chef eines kranken Landes in Europa, sich das überhaupt nicht geleistet.
An ihrem Lehrstuhl steht Mittel- und Osteuropa im Fokus der Betrachtung. Können Sie kurz skizzieren, welche Rolle osteuropäische Staaten bei den aktuellen Vorgängen in Brüssel gespielt haben?
Maćków: Hier ist auch das Stichwort "Retourkutsche" gut zu verwenden. Selbstverständlich sind speziell die Polen und die Ungarn aufgebracht darüber, dass ihre Haltung gegenüber einigen europäischen Problemen, zum Beispiel gegenüber der Flüchtlingsfrage oder innenpolitischen Reformen in den Mitgliedsstaaten, dass also ihre Haltung, die demokratisch legitimiert ist, mehrfach bestraft worden ist. Aktuell nehmen sie die Schwäche der sonst Starken wahr. In dieser Situation war es für sie wichtig, dass speziell der zweite Kandidat von Merkel, also Timmermans, nicht gewählt wird. Weil Timmermans sich hervorgetan hat bei der Bestrafung dieser Länder. Die Visegrád-Staaten aber auch die Balten haben sich mit den Italienern verbündet, mit denen sie normalerweise nicht viel verbindet. Wie im Falle Macrons ist der Hintergrund hier auch derjenige der Schwäche. Merkel konnte keinen ihrer Kandidaten durchsetzen.
"Es geht dabei aber darum, dass Angela Merkel ihr Gesicht nicht verliert."
Nun ist ja Ursula von der Leyen auch in gewisser Hinsicht als Kandidatin von Angela Merkel zu bewerten, insofern hätte sie dann ja doch ihre Kandidatin durchgebracht. Was spricht aus Ihrer Sicht für die Personalie und was möglicherweise dagegen?
Maćków: Ja, in gewisser Hinsicht ist sie die Kandidatin von Angela Merkel. Es geht dabei aber darum, dass Angela Merkel ihr Gesicht nicht verliert. Ursula von der Leyen war immer sehr loyal gegenüber Merkel. Das ist einer ihrer bestimmenden Züge. Jetzt geht es darum, Merkel nicht als die Verliererin erscheinen zu lassen. Wenn es um die konkrete Bewertung von Personalien geht, dann erfolgt diese immer aus bestimmten Perspektiven. Aus der deutschen Perspektive hat sie sich als Verteidigungsministerin nicht bewährt. Aktuell führt sie als Ministerin genau die entgegengesetzte Politik durch, mit der sie begonnen hat. Sie hat zunächst etwa Kindergärten eingeführt, hat alles so gestaltet, als ob die Bundeswehr zum Roten Kreuz werden sollte. Nach 2014 bestellte sie dann neue Panzer und hat in Europa Gefahren erkannt. Dann gibt es noch diese Affäre um einen Korruptionsverdacht. Und schließlich noch ihre Dissertation - das scheint übrigens kein großes Problem unter Politikern zu sein. Das alles könnte gegen sie sprechen. Allerdings ist grundsätzlich ein Politiker danach zu beurteilen, was er zu leisten im Stande ist. Sie ist sicher eine sehr gewiefte, erfolgreiche Politikerin, die auch ihre Niederlagen sehr gut überstehen kann. Das spricht für sie. Und möglicherweise ist sie mit diesen Eigenschaften ein geborener Vermittler. Kommissionschef ist wirklich das einzig wichtige Amt, die anderen Ämter sind belanglos unter machtpolitischen Gesichtspunkten. Vielleicht wird sie gut in diesem Amt sein. Sie hat gezeigt, dass sie Ausdauerqualitäten hat. Aber das ist zunächst Spekulation.
Die zentrale Frage
Gehen Sie davon aus, dass der letzte Vorschlag im Hinblick auf das Personaltableau so auch vom Parlament bestätigt wird?
Maćków: Ich gehe davon aus. Denn ansonsten hätten diejenigen im Rat, in dem diese Kompromissvorschläge - es sind tatsächlich alles Kompromissvorschläge - ausgearbeitet wurden, ihre Arbeit schlecht gemacht. Es wurde ja berechnet, ob diese Personen mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen im Parlament. Trotzdem schließe ich es nicht ganz aus, dass sich da in dem einen oder anderen Fall noch etwas verändern kann. Die Krise, mit der wir es in der EU zu tun haben, bedeutet für die Parlamentarier auch die Chance, ihre parlamentarischen Rechte einzufordern. In einem regulären demokratischen System wählt das Parlament die Regierung, ohne Vorschlagseinschränkungen durch sonstige Organe wie etwa den Rat. Selbstverständlich gibt es im EU-Parlament Abgeordnete, die wütend darüber sind, dass man nicht darüber redet, wie man in der Krisenzeit die Union durch die Stärkung des Parlaments demokratisieren kann. Das macht die Situation durchaus interessant, weil lebendiger.
Wäre es wünschenswert aus Ihrer Perspektive, dass ein solches Signal vom Parlament kommt?
Maćków: Aus meiner Sicht als Politologe wäre es wünschenswert, dass wir wirklich eine demokratische Union haben. Wenn man sich im Parlament zunächst weigern würde und die Zustimmung dann an die Bedingung einer Reform der Union knüpfen würde, dann wäre das der beste Weg die Union zu demokratisieren. Wenn man nur ein Exempel statuieren will, dann würde man die Union total regierungsunfähig machen. Bei allem was passiert ist, muss man sagen, dass zunächst gemäß den aktuellen Regeln gehandelt wurde. Es ist so, dass der Rat Vorschläge zu machen hat. Dass ist nicht demokratisch, in dem Sinne, dass das Parlament ja eine bessere Legitimation vorzuweisen hat, als der Rat. Und das Parlament hat die Regierung, also die Kommission zu wählen. Man müsste darauf abzielen, dass man dem Parlament entsprechende Rechte gibt. Aber die Regierungsfähigkeit der Union noch weiter zu schwächen, nur deshalb, weil man Merkel vielleicht nicht mag, das ist nicht verantwortungsvoll.
"Der bisher zweitägige Kampf hat gleichzeitig alle institutionellen Schwächen der Union bloßgelegt"
Glauben Sie, dass das Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen durch die aktuellen Vorgänge im speziellen in Deutschland weiter und möglicherweise nachhaltig beschädigt worden ist?
Maćków: Allen Beobachtern ist, denke ich, klargeworden, dass die Strukturen sehr fragil sind. Und dass Kompromissbereitschaft absolut nötig ist. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie viele Menschen die Vorgänge so intensiv verfolgt haben. Ich freue mich aber sehr, dass so viele Menschen zu den Wahlen gegangen sind. Das ist eine Art Wiederbelebung des Partizipationsprozesses innerhalb der Union. Der bisher zweitägige Kampf hat gleichzeitig alle institutionellen Schwächen der Union bloßgelegt. Und auch die Legitimationsschwächen. Die zentrale Frage ist, ob man daraus Lehren ziehen will. Ich befürchte nicht. Es wird möglicherweise versucht werden, es weiter so zu machen, wie bisher.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass man es derzeit auf Ebene der EU mit einem Stillstand zu tun hat - dergestalt, dass man sich einerseits nicht vorwärts in Richtung einer verstärkten Integration und Legitimation der Institutionen bewegen will. Und dass die meisten Verantwortungsträger andererseits - zum Glück möchte man sagen - auch nicht wieder zurück zu weniger Integration und Zusammenarbeit gehen wollen. Was ist ihre Einschätzung zur Situation und zu den Perspektiven?
Maćków: Das Dilemma haben sie treffend beschrieben. Mit einem solchen Stillstand kann man in guten Zeiten leben. Aber wir leben nicht in guten Zeiten. Wir brauchen eine Diskussion, was weiter mit der Union geschehen soll. Und diese Diskussion wird nicht geführt. Ich sehe das primär nicht als Problem der Bürger, sondern als Problem der Politiker. Es wird so getan, als müsse man Angst haben, zu sagen, dass die Lage schlecht ist und die Strukturen der Union sie nicht mehr tragen. Und dass es nötig ist, nun wirklich frei zu denken. Das ist erschreckend, weil solche Äußerungen aus keinem Land kommen, bis auf Frankreich. Die Vorschläge von Macron laufen gleichzeitig darauf hinaus, die schwächelnde Position Frankreichs zu stärken. Aber immerhin war das ein Impuls. Eine solche Diskussion brauchen wir unbedingt. Es gibt noch einen Aspekt dieses Problems: Fast alle haben derzeit große innenpolitische Probleme. Die Menschen sind zur Europawahl eigentlich aus nationalen Gründen gegangen, wie immer. Man wählt, um die eigenen Parteien zu belohnen oder zu bestrafen. Das heißt, dass nach wie vor eine Fokussierung auf die Nationalstaaten gegeben ist, und nicht auf diesen absolut notwendigen Prozess der Reform der Europäischen Union. Ich kann also nicht wirklich trösten. Das Dilema, in dem wir uns befinden, ist sehr, sehr gefährlich. Und die Zukunft der Union hängt am seidenen Faden.