DDR-Verbrechen

Zehn Jahre Haft für Stasi-Mord - "gnadenlos ausgeführt"


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Aus Richtersicht gibt es keinen Zweifel daran, dass der Angeklagte 1974 im Auftrag des DDR-Geheimdienstes den tödlichen Schuss abfeuerte.

Von dpa

Die Freiheit ist für Czesław Kukuczka nur wenige Meter entfernt, als ein Mann aus einem Hinterhalt tritt und einen Schuss in den Rücken abfeuert. Der 38-jährige Pole bricht zusammen. Mitten am Tag am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin, vor den Augen westdeutscher Schüler. Rund 50 Jahre später nun das Urteil: Ein Ex-Stasi-Offizier ist wegen heimtückischen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.

"Es war nicht die Tat eines Einzelnen aus persönlichen Gründen, sondern von der Stasi geplant und gnadenlos ausgeführt", sagte der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka bei der Urteilsbegründung. Der inzwischen 80-Jährige aus Leipzig sei es gewesen, der "am Ende einer Befehlskette" den Schuss abgefeuert habe. Dafür sei er später mit einem "Kampforden" ausgezeichnet worden.

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Der Prozess wurde wegen seiner historischen Bedeutung aufgezeichnet.(Archivbild)

Aus Richtersicht gibt es keinen Zweifel daran, dass der damalige Oberleutnant am 29. März 1974 aus einem Hinterhalt heraus den 38-jährigen Polen Kukuczka im Auftrag des DDR-Geheimdienstes erschossen hat. Als eine "Spezialkraft" des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) habe er dem Mann, der mit einer Bombenattrappe seine Ausreise in den Westen erzwingen wollte, aufgelauert. Bei der Tat handelte es sich nach Überzeugung des Gerichts um ein "gezieltes konspiratives Vorgehen".

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Bis dies nicht der Fall ist, muss der 80-Jährige auch nicht ins Gefängnis. Wie an den anderen 16 Prozesstagen verfolgte der sportlich-drahtige Angeklagte mit weißem Haarkranz äußerlich regungslos den Richterspruch. Der Deutsche hatte vor Gericht zu den Vorwürfen geschwiegen; seine Verteidigerin hatte zu Prozessbeginn erklärt, ihr Mandant bestreite diese. Sie plädierte auf Freispruch. Es sei nicht erwiesen, dass der Angeklagte der Schütze gewesen sei, so Rechtsanwältin Andrea Liebscher.

Daran hatte das Gericht jedoch keine Zweifel. Zu den wichtigsten Indizien zählte für die Strafkammer die Auszeichnung mit einem "Kampforden in Bronze". Es sei der achthöchste Orden in der DDR gewesen und für einen Offizier mit damaligem Dienstgrad Oberleutnant eine ungewöhnliche hohe Würdigung, erklärte Richter Miczajka. "Er hatte den Auftrag, den Kukuczka unschädlich zu machen, wenn er den letzten Kontrollpunkt überschritten hatte."

Laut Urteil gehörte der Sachse einer sogenannten Operativgruppe des MfS an. Am Tattag hatte das spätere Opfer in der polnischen Botschaft versucht, seine Ausreise zu erzwingen. Die Stasi sei eingeschaltet worden und habe ihn mit einer fingierten Genehmigung in eine Falle gelockt. "Er war der Einlullung des MfS erlegen und arglos bei seinem Gang Richtung Westen", so Richter Miczajka.

Es war eine 10. Schulklasse aus Westdeutschland, die zufällig die Tat beobachtete. Die Jugendlichen hatten Ost-Berlin besucht und wollten zurück in den Westen der damals geteilten Stadt. Eindrucksvoll schilderten mehrere damalige Schülerinnen aus Hessen vor Gericht die Geschehnisse - und ihre Angst und Fassungslosigkeit.

Die Stasi versuchte nach dem tödlichen Schuss, die Tat zu vertuschen, und baute eine unwahre Notwehr-Legende auf, wie das Gericht aus Dokumenten des Stasi-Unterlagen-Archivs rekonstruierte. Von der Behörde kam 2016 auch der entscheidende Hinweis zur möglichen Identität des Schützen: Ein vom damaligen Staatssicherheitsminister Erich Mielke unterzeichneter Befehl nannte zwölf MfS-Mitarbeiter, die im Kontext der Tötung ausgezeichnet werden sollten - darunter der Angeklagte.

Die Staatsanwaltschaft ging zunächst jedoch von einem Totschlag und nicht von Mord aus und stellte das Verfahren 2017 ein, weil die Tat in diesem Fall verjährt gewesen wäre. 2023 erhob die Staatsanwaltschaft Berlin jedoch Anklage, weil sie inzwischen das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt sah. Hintergrund für die neue Bewertung war ein europäischer Haftbefehl gegen den Angeklagten nach beharrlichen Nachforschungen auf polnischer Seite.

Richter Miczajka hatte zu Prozessbeginn deutlich gemacht, wo die Schwierigkeit rund 50 Jahre nach der Tat liegt: "Vieles wird auf der Bewertung von Urkunden beruhen." Mehrfach in den vergangenen fast sieben Monaten forderte die Kammer vom Stasi-Unterlagen-Archiv Skizzen oder Schriftstücke an. Eine Sachverständige für Geschichtswissenschaften wurde als Zeugin gehört. Am Ende hatten die Richter keinen Zweifel.

Der Angeklagte habe alle Voraussetzungen für eine Spezialkraft bei der Stasi erfüllt, so die Kammer. Er sei an einer Waffenschule ausgebildet worden und fest in die politischen Strukturen der DDR eingebunden gewesen. Bei der Tat habe es nur allgemeine Vorgaben zur "Lösung der Krisensituation" und damit Handlungsspielräume gegeben. "Festnahme oder Liquidierung waren vorgesehen, um eine Ausreise zu verhindern", so der Richter.

Der Prozess wurde wegen seiner historischen Bedeutung aufgezeichnet. Das Landgericht Berlin hat nach dem Mauerfall Geschichte geschrieben mit Prozessen zu Toten an der innerdeutschen Grenze. Bis zum Jahr 2004 wurden 130 Personen rechtskräftig verurteilt - vom einfachen Mauerschützen bis zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Militär.

Bei der Entscheidung im aktuellen Fall war laut Gericht das zum Tatzeitpunkt mildere DDR-Strafrecht zu berücksichtigen. Dadurch kam es nicht - wie eigentlich bei Mord nach bundesdeutschem Recht üblich - zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre Haft beantragt. Auch die Nebenkläger, drei Kinder und eine Schwester des Opfers, hatten eine Verurteilung wegen Mordes verlangt.

"Es ist ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Schuldspruch gegen das MfS und die DDR-Staatsführung", sagte Nebenklägeranwalt Hans-Jürgen Förster. Er hatte die Tochter des Getöteten im Prozess vertreten. "Für sie war es wichtig, dass im Prozess festgestellt wurde, die Tötung ihres Vaters war bitteres Unrecht."


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