Prüfungen in Corona-Zeiten
Wie läuft die Notengebung an den Schulen?
19. Dezember 2020, 7:00 Uhr aktualisiert am 4. April 2023, 6:02 Uhr
Die Verwerfungen durch Corona an den Schulen sind mannigfaltig. Schüler und Lehrer müssen in einer Situation agieren, auf die sie nicht vorbereitet, für die sie nicht ausgebildet und ausgestattet sind. Die Lehrkräfte versuchen, die Kinder adäquat zu betreuen und gleichzeitig ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Das Bildungsministerium verspricht Hilfe und entzerrt den Prüfungsplan. In einer Hinsicht hält man sich aber eher bedeckt: Notengebung.
Distanzunterricht beziehungsweise neuerdings Distanzlernen - das ist das Gebot der Stunde. Die Schüler in Bayern werden wahrscheinlich auch nach dem Ende der Weihnachtsferien wenigstens im Wechselunterricht oder möglicherweise komplett aus der Distanz beschult. Doch wie sieht es in dieser Situation mit Notengebung aus?
Grundsätzlich soll es auch unter den neuen Bedingungen weiterhin möglich sein, Leistungsnachweise in mündlicher oder schriftlicher Form zu erbringen, wie es seitens des Kultusministeriums heißt. In der Praxis gestaltet sich dies aber ob der besondern Bedingungen nicht einfach. Fraglich ist, inwiefern das Standardprogramm, die reguläre Anzahl an Leistungserhebungen, durchgezogen werden kann oder soll. Ebenso ist fraglich, ob sich die Bewertungskriterien unverändert anbringen lassen. Beispielsweise in Bezug auf das Abitur 2020 wurden vom Ministerium im Frühjahr bereits Sonderregelungen eingeführt, etwa die sogenannte "Günstigerregelung". Wie ist die momentane Situation?
"Bei der Notenvergabe herrscht momentan definitiv eine Ausnahmesituation", sagt Benedikt Karl, Sprecher des Bayerischen Philologenverbands (bpv), gegenüber idowa. Es würden zwar weiterhin Noten vergeben, aber deutlich weniger als in normalen Jahren. "Totzdem sollen die Leistungen der Schüler natürlich gewürdigt werden, und deren Rückmeldung an uns ist, dass sie das auch wollen", erklärt er. "Ich denke, dass die Lehrkräfte das im Einzelfall sehr gut einschätzen können und damit verantwortungsvoll umgehen."
Kurzfristige Entscheidungen in Corona-Zeiten
Ob Prüfungen nicht teilweise gestrichen statt verschoben werden sollten, will Benedikt Karl nicht abschließend einschätzen. "Stand jetzt sind wir noch nicht allzu stark unter Druck, was die Halbjahreszeugnisse betrifft", sagt er. Der bpv ist der Meinung, dass die Prüfungen auf jeden Fall "entzerrt" werden sollten, "damit im neuen Jahr nicht alles auf einmal auf die Schüler einprasselt." In der Q11-Stufe an Bayerns Gymnasien seien nun bereits acht Tage weggefallen, an denen Klausuren stattgefunden hätten. "Wir warten da aktuell noch auf konkrete Regelungen des Kultusministeriums", erklärt Karl. Jetzt schon pauschal zu sagen, dass man auf jeden Fall Leistungsnachweise streichen werde, ergebe keinen Sinn. "In der aktuellen Lage kollidiert die auf langfristige Planung angewiesene Schule mit sehr kurzfristigen Entscheidungen", fügt er an. Im Frühjahr müsse man sehen, wie es weitergehe. Rückblickend auf die Krisenphase in der ersten Jahreshälfte sagt Karl: "Im Frühjahr 2020 hatten wir als Lehrer sicher nichts gegen die Reduzierung der Prüfungszahl."
Das Kultusministerium teilt hierzu auf Anfrage mit, es werde darauf geachtet, dass in diesem von der Pandemie beeinflussten Schuljahr möglichst kein zeitlicher Druck bei den Prüfungen entstehe. "Die Schulen wurden darauf hingewiesen, dass Leistungsnachweise wie bisher gleichmäßig über das Schuljahr hinweg zu verteilen sind und dass insbesondere eine Notenerhebung 'auf Vorrat' weder notwendig noch sinnvoll ist", sagt Sprecher Zoran Gojic. Die Zahl der Proben für den Übertritt in der Jahrgangsstufe 4 habe man um 20 Prozent reduziert, um zeitlichen Druck abzubauen. "Dem gleichen Ziel dient die getroffene Entscheidung, die Abiturprüfungen zeitlich nach hinten zu verlegen", so der Sprecher weiter. Die Verschiebung der Abschlussprüfungen in anderen Schularten werde ebenfalls geprüft. Im Falle von Distanzunterricht über längere Zeit seien "Härtefallregelungen in Vorbereitung, um bei Bedarf flexibel bezüglich der Leistungsnachweise reagieren zu können."
Ob eine generelle Streichung von Prüfungen in Frage kommt, wollte das Ministerium auf Anfrage von idowa nicht kommentieren. Statt der eigenen Verantwortung wird die der Lehrkräfte hervorgehoben. "Wir wollen auch in der Corona-Pandemie faire Rahmenbedingungen für alle Schülerinnen und Schüler", sagt Sprecher Zoran Gojic. Wichtig sei, dass auf die von Schule zu Schule oder von Klasse zu Klasse sehr unterschiedliche Situation angemessen eingegangen werde: "Hier können die Lehrkräfte im Rahmen ihrer pädagogischen Verantwortung Schwerpunktsetzungen vornehmen." Für zentral vorgegebene Abschlussprüfungen, beispielsweise für die Q12 der Gymnasien, gebe es aber bereits verbindliche Hinweise zu prüfungsrelevantem und nicht-prüfungsrelevantem Stoff.
Leistungsunabhängig in die nächste Jahrgangsstufe?
Wie schwierig in der aktuellen Lage der Spagat zwischen bildungspolitischen Zielsetzungen und dem Wohlergehen der Schüler ist, erklärt Michael Schätzl von der Landesfachgruppe Gymnasium bei der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern. Schätzl ist Lehrer an einem Münchner Gymnasium und versucht dort, der besonderen Situation gerecht zu werden. "Aus Lehrersicht wird wohl schon mit Wohlwollen situationsgerecht beurteilt", sagt er mit Blick auf die Praxis der Notenvergabe. "Andererseits wird durch Corona aber auch struktureller Druck auf die Schüler erzeugt, den es ohne nicht gäbe."
Schätzl widerspricht der Aussage des Kultusministeriums, dass von Notengebung auf Vorrat abgesehen werde. "Bei drohendem Distanzunterricht versuchen Lehrkräfte natürlich, noch möglichst viele Noten zu bekommen, um den Regularien nachzukommen", sagt er. "Dass das so geschehen ist, liegt auch daran, dass das Ministerium keinerlei konkrete Maßnahmen beschlossen hat, um dem zuvorzukommen."
Welchen Wert haben Noten aber, wenn sie "wohlwollend" vergeben werden? Schätzl antwortet vorsichtig: Da Lehrkräfte die Last der Pandemie-Situation nicht den Kindern und Jugendlichen aufbürden wollten, versuche man, nicht nur die Stofffülle anzupassen, sondern auch die Notengebung im Kontext der besonderen Lernsituation zu beurteilen. "Möglicherweise äußert sich das in den Augen der Schüler manchmal auch als 'ein Auge zudrücken'", vermutet der Gymnasiallehrer. Ob es so kommen werde, dass alle Schüler leistungsunabhängig in die nächste Jahrgangsstufe vorrücken, wisse man aber erst, "wenn man die Entscheidungen des Kultusministeriums zur Notenvergabe hinsichtlich des Jahreszeugnisses kennt", fügt er an.
Zwei Wochen Zeit für Noten
Auch an anderen Schulen wartet man gespannt auf Informationen aus dem Kultusministerium. Zum Beispiel an der FOS/BOS in Straubing, wo Anna Forstner unterrichtet. "Natürlich ist es schwierig geworden, Noten zu machen, denn es waren permanent einige Schüler oder auch ganze Klassen in Quarantäne - sprich bei uns dann im Distanzunterricht", sagt sie. Termine hätten verschoben werden müssen und würden wohl auch weiterhin verschoben. "Die 11. Klasse der FOS konnte vor Weihnachten keine Leistungsnachweise mehr erbringen, hat aber blöderweise Probezeit", erklärt sie. "Das heißt, dass bis 25. Januar die Noten für das 1. Halbjahr eigentlich gemacht sein müssten - das wären zwei Wochen Zeit nach dem 10. Januar."
Was das "Augen zudrücken" bei den Noten betrifft, verweist die Straubinger Lehrerin ebenfalls auf die Ausnahmesituation. "Das wird schon teilweise gemacht, weil man ja nicht will, dass diese schwierige Situation an den Kindern hängen bleibt", sagt sie. "Sehr viele Augen drücken wir aber bei den Absenzen zu, denn ich kann nicht jedes Mal beim Gesundheitsamt anrufen und nachfragen, ob ein Schüler einen Test gemacht hat und das Ergebnis noch nicht hat."