1860-Kult-Wirtin in Sorge
Christl Estermann: "Ich muss zum Sozialamt"
29. Dezember 2018, 12:08 Uhr aktualisiert am 29. Dezember 2018, 15:09 Uhr
Christl Estermann, die legendäre Wirtin des Löwenstüberls, hört auf. Die 75-Jährige soll künftig von 250 Euro im Monat leben.
Giesing - Es ist ein sonniger Freitag auf Giesings Höhen. Das kleine, marode Löwen-Stüberl liegt scheinbar verlassen da. Die Spieler des TSV 1860, Trainer Daniel Bierofka, die Vereinsbosse: Alle genießen dieser Tage ihren knapp bemessenen Winter-Urlaub. Nur die Christl ist hier. Sie hat regen Besuch, denn: Kult-Wirtin Christl Estermann ist auf Abschiedstournee. Und sie fürchtet sich. Vor dem Gang ins Ungewisse.
"Es war eine wunderbare Zeit. Ich habe mein Leben für Sechzig gegeben. Aber jetzt habe ich Angst", sagt die 75-jährige Wirtin der AZ und stochert in einem Teller mit zwei Scheiben Kasseler und Kartoffeln. Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen wischt sie sich die Tränen aus den Augen.
Estermann: "Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll"
"Das Stüberl war mein Ein und Alles. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll", sagt Estermann und schaut sich um: Viele Erinnerungsstücke der vergangenen Jahrzehnte hat sie schon von den Wänden genommen.
Sie fragt sich, wie sie ihre Tage füllen soll, nachdem sie ihre geliebte Gaststätte am 31. Dezember nach fast 27 Jahren zum letzten Mal zusperren wird. Bevor sie ihre Schlüssel endgültig einem neuen Pächter übergibt. "Ich werde mich sehr hart tun ohne mein Wohnzimmer." Sie fragt sich auch, wie sie ihren Lebensabend finanzieren soll. Estermann gesteht, während sie ihre Fingerspitzen aneinander reibt: "Mir geht es auch hier sauschlecht." Sie hat nicht nur Angst vor der Leere, sie hat Angst vor der Armut.
Estermann: "Meine Ersparnisse sind weg"
Lange habe sie mit sich gerungen, ob sie es "an die große Glocke hängen" solle. Nun erzählt sie im Gespräch mit der AZ offen: "Meine Ersparnisse sind weg. Das meiste habe ich ins Stüberl gesteckt. Jetzt habe ich eine minimale Rente, da bleiben mir nur 250 Euro im Monat." Für ihre Wohnung in Ramersdorf habe sie "zum Glück" einen günstigen Mietvertrag der Gewofag. Dennoch reicht die Rente kaum zum Leben, weshalb sie mit erneut feuchten Augen erzählt: "Ich muss zum Sozialamt. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht."
Ihre beiden Töchter würden sie unterstützen, doch das reiche leider nicht. Auch dem Verein wolle sie keinen Vorwurf machen, wenngleich sie vergeblich um Ablöse für einige Renovierungsarbeiten gebeten habe: "Sechzig hat ja selber kein Geld." Investor Hasan Ismaik sprach sie sogar ihren Dank aus, da der Jordanier in den beiden vergangenen umsatzarmen Jahren die Stüberl-Miete übernommen hatte: "Ohne Herrn Ismaik hätte ich schon früher gehen müssen." Was bleibt, ist die Ungewissheit.
Letztes Highlight mit Werner Lorant
Ihre Sorgen gegen ihr schönstes Lächeln eintauschen konnte die 75-Jährige zuletzt noch einmal im letzten Heimspiel vor der Winterpause gegen den 1. FC Kaiserslautern (2:1). Estermann wurde in der Halbzeitpause von den Sechzgern verabschiedet. "Das war ergreifend. Sogar die Lauterer Fans haben geklatscht."
Ein "letztes Highlight" sei auch ihr jüngster TV-Auftritt bei Blickpunkt Sport gewesen, als sie Studio-Gast und Sechzigs Kult-Trainer Werner Lorant einen letzten "Expresso" überreichte: "Eine schöne Überraschung. Die Zeit unter Werner war auch für mich und mein Stüberl die beste."
Estermann zweifelt: "Wärst du doch geblieben"
Nach einer letzten Silvesterparty ist nun endgültig Schluss. Aus emotionaler Sicht plagen die Christl leise Zweifel an ihrem Aus, das sie mehrmals hinausgezögert hatte. "Ich habe in den letzten Tagen öfter gedacht: ‚Christl, wärst du doch geblieben.'"
Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr und Estermann, bald nur noch Ex-Wirtin, hofft: "Vielleicht ist der Herrgott ein Sechzger und hilft mir, wenn ich nicht mehr weiter weiß."
Lesen Sie hier: So geht es mit dem Löwenstüberl weiter
Die AZ hilft Christl Estermann mit einer Spendenaktion - wie ihr mithelfen könnt, erfahrt ihr hier: sport@az-muenchen.de