Überblick
Der gereifte Herr Tuchel
26. März 2023, 17:35 Uhr aktualisiert am 26. März 2023, 18:11 Uhr
München - Seinem Vorgänger Julian Nagelsmann (35) hatten die Bayern-Bosse einen Fünfjahresvertrag gegeben - verbunden mit dem Wunsch, "eine Ära" zu prägen, wie es Anfang Juli 2021 an gleicher Stelle noch hieß. Doch Thomas Tuchel (49), der neue Trainer der Münchner, wirkte nicht sonderlich traurig, dass an diesem Samstagmittag alles eine Nummer kleiner ausfiel in der Allianz Arena.
"Es ist ein Fortschritt, bei Chelsea habe ich mit 18 Monaten angefangen", sagte Tuchel mit einem Schmunzeln über seinen Bayern-Vertrag bis Sommer 2025: "Für mich spielt das keine große Rolle, ich fühle mich extrem wohl mit der Laufzeit." Tuchel sprach ruhig, überlegt, da saß ein Mann, der völlig mit sich im Reinen schien. "Wenn es gut ist, wenn sich alle wohlfühlen, werden wir versuchen, zu verlängern", ergänzte Tuchel: "Und wenn sich irgendjemand auf dem Podium hier nicht wohlfühlt, wird es auch nicht länger gehen - egal was auf dem Arbeitspapier steht."
Vorstandschef Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidzic lächelten an Tuchels Seite zufrieden - kein Wunder: Die Souveränität und der Pragmatismus des Nagelsmann-Nachfolgers dürften dabei helfen, den Fokus wieder aufs Sportliche zu lenken. Nach den Erschütterungen der vergangenen Tage ist dies auch dringend notwendig. Am Dienstag hatten Kahn und Salihamidzic die Verhandlungen mit Tuchel aufgenommen, am Donnerstag wurde schließlich eine Einigung erzielt. Und erst am Donnerstagabend, als die Trennungsgerüchte schon in der Welt waren, wurde Nagelsmann telefonisch informiert.
"Wir mussten die Zusage abwarten", rechtfertigte sich Salihamidzic am Sonntag im Sport1-"Doppelpass". "Der Erste, den wir angerufen haben, war Julian Nagelsmann."
Daher habe man "sich fair verhalten, so fair, wie man in diesem Geschäft sein kann".
Zu den Gründen der Nagelsmann-Freistellung sagte Salihamidzic mehrmals, "dass die Konstellation zwischen Trainer und Mannschaft nicht mehr gestimmt hat". Zehn Punkte büßte Bayern zuletzt auf Borussia Dortmund ein, die Tabellenführung in der Bundesliga ging verloren. Mitentscheidend war das 1:2 am vergangenen Wochenende in Leverkusen, als Bayern komplett enttäuschte. "Wir haben jetzt einen der besten Kader in Europa und trotzdem ist die Leistungskontinuität der Mannschaft nicht besser geworden", erklärte Kahn: Die Trennung sei keine "Panikreaktion", sondern "wohlüberlegt" gewesen: "Wir haben unsere Ziele für diese und die nächste Saison als gefährdet angesehen." Daher fiel die Wahl sofort auf den verfügbaren und europaweit begehrten Tuchel, der an diesem Montagvormittag sein erstes Training an der Säbener Straße leiten wird - mit wenigen Stars.
Die meisten Nationalspieler sind unterwegs, erst am Freitag hat Tuchel das gesamte Team zusammen, nur einen Tag vor dem Topspiel gegen Dortmund, seinen Ex-Klub. "Es geht darum, Vorfreude zu schaffen. Das ist ein Riesenspiel", sagte Tuchel: "Es gilt, am Samstag das erste Ausrufezeichen zu setzten."
Beim BVB hatte sich der Coach einst mit Boss Hans-Joachim Watzke überworfen, was 2017 trotz DFB-Pokal-Triumphs zur vorzeitigen Trennung führte. Doch auf den folgenden Stationen bei Paris Saint-Germain und dem FC Chelsea bewies der gereifte Herr Tuchel zweifellos, dass er zu den besten Trainern der Welt gehört. 2020 führte er PSG ins Champions-League-Finale gegen Bayern (0:1), ein Jahr später holte er mit Chelsea den Henkelpott gegen Manchester City (1:0). Im Königsklassen-Viertelfinale trifft Tuchel nun mit Bayern erneut auf City und Pep Guardiola - es soll nur eine Zwischenstation sein. "Wir werden mit allem, was wir haben, versuchen, diese drei Titel zu holen. Dafür sind wir da, für nichts anderes", kündigte Tuchel gleich an: "Die DNA des Klubs ist eine Verpflichtung. Es geht ums Gewissen. Die Verantwortung ist also klar, es kann keine Missverständnisse geben." Das werden die Verantwortlichen gerne hören.
Übrigens: Bereits 2018 hätte Tuchel Bayern beinahe übernommen, doch Uli Hoeneß, dem Tuchel bei seiner Präsentation am Samstag überraschenderweise genauso dankte wie den anderen Bayern-Bossen, versuchte damals (zu) lange, Jupp Heynckes zu einer Vertragsverlängerung zu überreden. Inwieweit der Ehrenpräsident diesmal wieder beteiligt war?
Damals "war es sehr eng", verriet Tuchel: "Aber ich hätte es an Uli Hoeneß' Stelle wahrscheinlich auch so getan." Jetzt hat es gepasst zwischen Bayern und Tuchel. Der zweite Versuch soll sitzen. . .