Kampfkunst
Die Samurai der Neuzeit
23. August 2012, 9:00 Uhr aktualisiert am 23. August 2012, 9:00 Uhr
Bereits zum dritten Mal an diesem Abend sterbe ich. Der Schwertstreich kommt von der Seite und ich kann nicht schnell genug reagieren. Ich reiße meine eigene Waffe hoch, doch bin nicht schnell genug. Die Klinge trifft meine Arme, schneidet durch sie wie Butter. Das war's: Ich bin getroffen, geschlagen, tot. Zumindest wäre ich es, wenn es sich um echte Schwerter gehandelt hätte.
Statt auf einem mittelalterlichen Schlachtfeld bin ich in der Sporthalle einer Grundschule in München. Und ich kämpfe auch nicht wirklich, sondern trainiere mit Christine. Sie leitet an diesem Montagabend das Training. Shinkendo ist der Name dieser Kampfkunstart, die sich an den Techniken der alten Samurai orientiert. Gerade mal acht Vereine gibt es in Deutschland. Zwölf Mitglieder hat der Münchener Dojo. Und heute bin ich mit dabei. Der 13. Krieger.
"Beinarbeit ist wichtig"
In der Sporthalle in der Weißenseestraße deutet bis auf ein Banner mit japanischen Schriftzeichen nichts darauf hin, dass hier zweimal pro Woche die Techniken der Samurai lebendig werden. Während ich mich umsehe, lerne ich meine Kampfgenossen kennen: Christine, den großen Martin und den kleinen Martin. Ich stelle mich kurz vor und erläutere, wie mein Beruf und "Last Samurai", "Kill Bill" und einige Filme mehr mich hierhergebracht haben. Mit einer einfachen Sporthose und einem gelben T-Shirt ausgerüstet starte ich in das Training. "Bei den Neulingen ist die Beinarbeit sehr wichtig", sagt Christine. Und wenn ich eine Hose anstatt des traditionellen Gehrocks trage, kann sie Fehler viel leichter erkennen und korrigieren.
Mit dem Gedanken, dass das heute wohl öfter nötig sein wird, gehe ich in die Meditation, die vor und nach jedem Training ansteht. Dafür schaue ich einfach bei den anderen ab, knie mich hin, verbeuge mich einmal, schließe die Augen und bereite mich mental vor. Die dröhnende und basslastige Musik von Usher, die aus der Nachbarhalle schallt, macht es mir nicht gerade leicht. Ohne Erleuchtung gefunden zu haben, mache ich mit beim Aufwärmen. Dann beginnt der zweistündige Kampf.
Shinkendo ist eine Kampfkunstart, die sich an den Techniken der alten Samurai orientiert, erklärt mir Christine. Gegründet wurde sie von Toshishiro Obata im 20. Jahrhundert. Obata hat dazu Techniken aus verschiedenen Kampfschulen übernommen und leicht abgewandelt. Statt mit echten Waffen kämpfen Shinkendokas mit Holzschwertern, sogenannten Bokken. Ein solches drückt mir Christine dann auch gleich in die Hand. Ob sie niemals scharfe Waffen verwenden, frage ich. "Hin und wieder schon", sagt der große Martin, "deswegen sind wir heute auch so wenige". Ich überlege kurz, dann kapiere ich den Witz und stimme in das Lachen mit ein. "Scharfe Schwerter werden nur selten, nämlich zu Schnitttests benutzt", erklärt Christine anschließend. Das sei aber nur etwas für Erfahrene. Deswegen beschäftigen wir uns zunächst mit den Grundlagen. Dafür muss ich mein Bokken auch schon wieder weglegen.
Erst ausweichen lernen
Bevor ich lerne, wie man kämpft, soll ich lernen, wie man ausweicht. Macht Sinn, das steigert die Überlebenschancen. Zu Beginn kopiere ich einfach die Bewegungen, die Christine vormacht. Der Angriff kommt bei dieser Übung immer von vorn. Nach links vorne ausweichen. Geschafft. Nach rechts vorne ausweichen. Geschafft. Nach links hinten ausweichen. Zack, meine Arme wehren ab. Die habe ich gestreckt gelassen, sodass sie direkt in die Schnittlinie ragen. Also noch mal von vorn. Vier Durchgänge später habe ich das Ausweichen einigermaßen verinnerlicht. Zeit, zum Schwert zu greifen.
Wer allerdings nach Freestyle-Kämpfen sucht, ist beim Shinkendo falsch. Hier gibt es nur fünf verschiedene Schnitt-Arten. In meiner ersten Kata (einer festgelegten Abfolge von Techniken) bringe ich alle unter. Dazu halte ich das Bokken fest umklammert, die Spitze zeigt meinem (imaginären) Gegner an die Kehle. Der kleine Martin sieht mir zu und korrigiert mich bei Bedarf. Arme strecken. Ein Schritt weiter nach vorne. Schwert gerade halten. Bei so vielen Anweisungen muss ich konzentriert bleiben. Dann darf ich endlich selbst das Schwert schwingen: Yoko, Kiriyage, Keza, Yoko, Kiriyage, Keza, Helmspalter. In der Realität habe ich mit meinem Bokken nur Schnitte in unterschiedliche Richtungen ausgeführt, ohne etwas anderes als die Luft zu treffen. Doch in meiner Fantasie steche ich meinen Gegnern in die Kehle, schlitze ihnen den Bauch auf, spalte sie von der Schulter bis zur Hüfte und schlage ihnen mit meinem Katana den Schädel ein. Am Ende bin ich von Leichen umgeben und blutbespritzt. Der 13. Krieger eben.
Kämpfen nach Drehbuch
Christine findet, dass ich jetzt bereit bin, mich einem echten Menschen in einer Partnerübung zu stellen. Zu meinem Glück haben die Partnerübungen eine Art Drehbuch. Jeder weiß zu jedem Zeitpunkt, was der andere tun wird. So bleibt das Verletzungsrisiko gering. "Fußball ist gefährlicher als Shinkendo", sagt Christine. Ob sie recht hat? Wir stellen uns auf. Christine steht mir gegenüber. Zunächst verbeugen wir uns voreinander. Höflichkeit muss sein, auch wenn wir uns in wenigen Sekunden die Holzschwerter um die Ohren schlagen werden. Wir ziehen unsere Waffen. Bei den Partnerübungen verwenden wir sogenannte Bokutos. Sie unterscheiden sich von den Bokken nur dadurch, dass sie keine Spitze haben und rund sind. Auch hier geht die Sicherheit vor. Trotzdem bin ich froh, dass ich die Rolle des Angreifers übernehmen darf. Christine senkt ihr Schwert: Sie ist bereit. Ich greife an: ein Schritt nach vorne und dann ein Stich. Sie kann problemlos blocken, reißt ihr Bokuto hoch und drängt meine Schwertspitze zur Seite ab. Zeit für einen Gegenangriff lasse ich ihr nicht. Ich tauche mein Schwert kurz nach unten, befreie mich aus ihrem Block und steche erneut zu. Wieder gelingt es ihr, abzuwehren. Das wird wohl nichts, also hebe ich das Schwert über meinen Kopf, lege Kraft in meinen Arm und mache einen einfachen Schnitt. Christine lächelt jedoch nur, weicht nach links aus und lässt meinen Angriff ins Leere gehen. Und plötzlich finde ich mich in "Last Samurai" wieder und muss mich verteidigen. Sie schlägt zu und mir gelingt es gerade noch rechtzeitig, mein Bokuto nach oben zu ziehen und so einen Treffer zu verhindern. Zu meinem Glück ist die Übung jetzt zu Ende. Genau wie das Training für heute.
Wir legen die Schwerter weg und sammeln uns wieder zur Meditation. Aus der anderen Turnhalle tönt immer noch Pop-Musik. Es sind alte Songs von Kylie Minogue. Doch dieses Mal stört mich das nicht. So konzentriert wie in diesen zwei Stunden Training war ich schon lange nicht mehr. Als ich später nach Hause fahre, merke ich, wie mein rechter Arm schmerzt. Egal, was mich nicht umbringt, macht mich kräftiger. Und noch etwas habe ich gelernt: Tom Cruise ist nicht der letzte Samurai. Denn die Samurai sind immer noch unter uns. Jeden Montag- und Donnerstagabend in der Turnhalle in der Weißenseestraße.
Von Patrick Beckerle