Von Unfallklinik auf Reha
Matthias Keck wird im Rollstuhl immer selbstständiger
28. August 2023, 6:00 Uhr
Hinweis: Das ist Teil zwei von drei der Auszüge aus Matthias Kecks Tagebuch. Alle Teile im Überblick:
Matthias Keck ist nach einem Unfall querschnittsgelähmt. Schreiben hilft ihm, sein neues Leben zu begreifen. Im Juli haben wir erste Auszüge aus seinem privaten Tagebuch veröffentlicht. Das ist seitdem passiert.
Mittlerweile hat sich Matthias’ Alltag verändert. Gerade in den ersten Wochen in der Unfallklinik in Murnau lag er viele Stunden im Bett. Nun ist er selbstständiger, weniger auf die Hilfe anderer angewiesen – und schreibt die Dinge auf, die ihn wirklich treffen. Aus dem Tagebuch wurde so ein Alle-paar-Wochen-Buch.
18. Juli 2023, 8.30 Uhr
[...] Rückenmarksverletzungen wirken sich maximal individuell auf den Organismus aus. Viele Patienten liegen so gut wie nur im Bett und
bewegen sich ausschließlich oberhalb des Nackens. Manche können zumindest teilweise Arme und Finger steuern. [...] Wieder andere lernen sogar zu gehen. [...] Auch jede Seele bewältigt eine Querschnittlähmung anders. Ich habe mich schon mit vielen Mitpatienten unterhalten, wie sie mit ihrer Situation umgehen. Spreche ich mit Leuten einer bestimmten Gruppe, bin ich am meisten betroffen. Ich lerne gerade, mich von ihren Gedanken abzugrenzen.
Es sind die Verweigerer. Das Leben im Rollstuhl erachten sie als unwürdig. Zumindest nehme ich das so wahr. Durch die Gänge sausen, sich Berge hinaufmühen und holprige Flächen überwinden, um fitter im Rollstuhl zu werden? Keine Option.
Auf Rollstuhlsportarten oder Handfahrrad-Modelle lassen sie sich nicht ein. Im Gespräch mit Verweigerern geht es oft um körperliche Leiden. Der Rücken schmerzt, die Schultern sowieso. Die Beschwerden teile ich. Die Konsequenz daraus nicht.
Höre ich ihnen zu, fließt psychisches Gift durch all meine Fasern. Mein Fehler ist, von ihrer persönlichen Einstellung auf das Allgemeine zu schließen. [...] Also habe ich mich entschlossen, ihre Worte einfach unkommentiert zu lassen. [...]
Ich möchte lächeln, wenn ich durch die Klinik brettere. Ich nehme jeden Tag so an, wie er kommt, und gebe jeder Sekunde die Chance, ein erfüllter Lebensmoment zu werden.
Noch dieses Jahr will ich mich von meinem Heimatdorf aus über Feldwege blind in die Landschaft hineinfallen lassen. [...] Auf Landstraßen fahren, abgelegene Wiesen am Fluss entdecken, ein Lager mit einer Luftmatratze unter freiem Himmel aufschlagen, übernachten und mich von der Morgensonne wachkitzeln lassen – nach solchen Abenteuern sehne ich mich. [...]
Aktuell ermöglicht mir der Rollstuhl, auch als Querschnittgelähmter Erfahrungen auszukosten. Darum bin ich froh, ihn zu haben. Ich habe Lust zu erleben. [...] Und diese Lust lasse ich mir nicht nehmen.
23. Juli 2023, 22.30 Uhr
Schaffe ich den Berg? Ich muss, rede ich mir letzten Sonntag ein. Bei jedem Griff an das Metall quietschen meine Hände und werden feuchter. In der Ferne erkenne ich einen Mann, er steht vor einer Bank. Ich schnappe nach Luft, als ich auf 83 Metern Weg acht Höhenmeter hinaufschwitze – und dem Ende meiner Zeit in Murnau entgegenfahre. Den Rollstuhlgreifring drücke ich nach unten, der Oberkörper schnellt gen Boden. Eine Armlänge stoße ich mich vor, schon drohe ich zurückzurollen. [...] Auf, ab, schnauf, schnauf: Mechanisch wippe ich die Straße entlang. Der Mann nähert sich mir.
Vor gut zwei Wochen graute es mir bei jedem Blick auf den Hügel. Ich war darauf angewiesen, dass Angehörige mich schoben. Nun habe ich den Berg halb hinter mir. [...] Inzwischen höre ich den Mann atmen, so nah kam er mir. „Kann ich helfen?“, fragt er. Ich schaue in wässrige Augen und verstehe: Tatsächlich braucht er meine Hilfe. Denn es geht nicht immer um uns Verletzte – sondern auch um die Menschen um uns.
Ich bedanke mich, lehne ab und stelle klar, mich gerne zu quälen, um fitter zu werden. Der Mann nickt, kehrt zurück und setzt sich neben ein Kleinkind und eine Frau. [...] Mein Gedanke: Hier sitzen Papa, Mama und Bruder. Im Krankenhaus muss das andere Kind der Familie liegen, vielleicht ein Junge in meinem Alter, vielleicht auch am Rückenmark verletzt. Später bewahrheitet sich das. Nun, vermute ich, sehen Vater und Mutter mich im Rollstuhl, somit stehe ich für das eigene Kind. Das spült jede mögliche Emotion hervor.
Sollen sie sich freuen? Immerhin sehe ich gesund aus. [...] Ich bringe meinen Körper im Rollstuhl an Grenzen, an denen ein untrainierter Fußgänger scheitern würde – das zeigt, was trotz Unfall alles möglich ist. Und ich habe Lebensfreude und trage sie nach außen. Doch all das erkenne nur ich, für ein Elternteil mit verunglücktem Kind ist das unsichtbar. Mir zuzuschauen, schmerzt, weil der Mann und die Frau in mir ihren Schützling sehen, der jetzt eingeschränkt lebt. Da bin ich mir sicher. Denn meiner Mama und meinem Papa geht es ähnlich.
Vor der Bank halte ich an. [...] Die Eltern erzählen, ihr Sohn sei vor wenigen Tagen daheim in den Pool gehechtet. „Der Kleine war dabei“, schluchzt die Mutter, „und hat gesehen, wie der Bruder nicht mehr auftaucht“. Diagnose: Querschnitt. Gerade versorgen ihn die Ärzte auf der Intensivstation. Die Frau bricht zusammen. [...]
Ich fasse an ihre Schulter. Nach einer halben Minute hebt sie den Kopf. Sie wolle nicht weinen. Immerhin seien ihre Gefühle nichts gegen das Leid des Sohnes. Ich widerspreche, ermutige, die Trauer zuzulassen, denn ich bin überzeugt: Eltern leiden in so einer Situation am meisten.
Dabei habe ich eine Szene vom Vortag im Kopf: Familienbesuch, wir sitzen im Biergarten. Ich muss pinkeln, weiß ich. Da ich keinen Blasendruck mehr fühle, richte ich mich nach Uhrzeit und Trinkmenge. Mein Papa begleitet mich bis ins Behindertenklo. Oft habe ich davon gesprochen, mich seit dem Unfall zu kathetern, ich führe mir also ein Röhrchen ein, statt per Muskel Urin aus der Blase zu lassen. Offenbar hat mein Vater nie begriffen, was das bedeutet. Denn als ich den 40 Zentimeter langen Silikonschlauch aus der Hülle herauszupfe, klappt sein Unterkiefer herunter. [...]
„Da zieht sich alles in mir zusammen“, erzählt mein Papa später. Er hasst es auch, mich von hinten zu beobachten. Er sehe dabei nur Kopf und Rollstuhl. Ohne mein Gesicht, mit dem ich mein Wesen ausdrücke, bleibt für ihn nichts als die Behinderung übrig.
25. Juli 2023, 21.30 Uhr
Mittlerweile habe ich die Unfallklinik verlassen. Wochenende und Wochenstart daheim liegen hinter mir. Als ich am Samstag dusche, verwunde ich Papas Seele wieder: Ich klammere die rechte Hand um ein Kunststoffbrett, das als Sitz über der Badewanne liegt. Die linke Hand umgreift das Rollstuhlkissen. So stütze ich meinen nackten Po hoch, dann unter den Duschkopf. Meine Eltern stehen im Bad. „Nicht helfen“, sage ich. Nacheinander friemle ich meine Beine vom Trittbrett in die Wanne. Wegen fehlender Rumpfmuskeln kippe ich nach hinten. An einem Gummigriff ziehe ich mich mit Schwung vor. Gut gegangen – zunächst.
Mein nasser Hintern rutscht so weit mit, dass ich mich schon auf den Wannenboden klatschen sehe. Ich pendle mein Gewicht gerade rechtzeitig ein, habe wieder knapp Glück. Aber die Beine schlittern an der feuchten Keramik entlang, die Knöchelaußenbänder überdehnen, die Füße klappen nach innen. Unnatürlich und meinem Körper ausgeliefert sitze ich da. Nie war für meine Eltern sichtbarer, wie viel Freiheit mir der Querschnitt entrissen hat.
Für mich sind diese Situationen Alltag. Ich denke nicht nach, wie schwer es ist, aufs Klo zu gehen, mich zu waschen, anzuziehen (was zusammen drei Stunden dauert) oder ins Bett zu steigen. [...] Früher hob ich innerhalb einer Sekunde eine herabgefallene Fernbedienung auf, jetzt brauche ich da teils eine Minute.
Ein Onkel hat meine Einstellung gut in Worte gefasst: Die Zeit seit dem 30. Mai 2023 empfinde ich wie die Rechnung Null plus X. Null, weil ich hätte sterben können. X steht für alle Sekunden Leben seither.
Anfangs lag ich jeden Morgen in meinem Kot, bis eine Pflegekraft mich sauber gemacht hat. Auf Reha in Bad Wildbad im Schwarzwald, wo ich mich seit Dienstag aufhalte, benötige ich in allen 24 Stunden des Tages keine Hilfe. X wird immer größer. Das erkläre und beweise ich Teilen meines Umfelds immer wieder. Ich denke, das bin ich ihnen schuldig, vor allem meinen Eltern. Immerhin habe ich ihnen mit dem Unfall einiges angetan.
28. Juli 2023, 23 Uhr
Gerade meine Freunde haben mein neues Leben sofort angenommen und realisiert: Im Wesentlichen unterscheidet es sich kaum vom alten. Das zeigen die Tage in Landshut zwischen Klinik und Reha. Erst habe ich befürchtet, gegen eine betonharte Realität zu crashen. Aber die hat sich als einziges Abenteuer erwiesen – mein Abenteuer. Und ich liebe es.
Am Samstag, nach einer Nacht bei meinen Eltern, holt mich eine Freundin ab. Wir steuern den Landshuter Bahnhof an: Am Gleis beobachte ich, wie Passagiere mit einem kräftigen Impuls im Oberschenkel den Absatz zwischen Bahnsteigkante und Zugboden bewältigen. Und ich? Darüber kann ich noch gar nicht nachdenken, da quatscht meine Begleiterin schon zwei Männer an. Lächelnd erklären sie sich bereit dazu, mich in den Waggon zu heben. Wir fahren nach München, wo ein befreundeter Musiker auftritt.
Auf dem Open Air am Königsplatz liege ich unter Baumkronen, bestaune Stunden später Feuertänzer und durch die Luft gleitende Gaukler an der Landshuter Ringelstecherwiese, ziehe nachts mit engen Freunden durch die Altstadt, lasse mir am Sonntag von meiner Tante und meiner Cousine den Rücken kraulen, Nudeln vom Stammitaliener auf einer Gartenbank im Heimatdorf schmecken und mich am Montag vom Blick ins Isartal im Abendrot überwältigen. Alles dank der Hilfe von Fremden, der Liebe meines Umfelds und meiner Lust, einfach auszuprobieren. Doch die Heimat kostet auch Energie.
An einem Tag ziehe ich den Katheter vom morgendlichen Wasserlassen heraus, als es an der Tür klingelt. Kurz vorher ist der Schweiß im Gesicht erst getrocknet, der herabfloss, als ich mich wieder in den Rollstuhl beförderte – nach der Dusche. Ich freue mich, dass man mich sehen will. Allerdings würde ich mich in dem Moment noch mehr über eine Tasse Kaffee in Ruhe freuen.
Allen, die fragen, berichte ich vom Unfall, der Operation oder erkläre mein Körpergefühl. Eigentlich gerne. Nur wiederhole ich mich: „Ja, ich bin aus sechs Metern gestürzt. Oder fünf.“ „Nein, das ist nicht mein Rollstuhl. Leihgabe.“ „Vielleicht kommt Gespür unterhalb des Bauchnabels zurück. Oder Funktionen in den Beinen. Vielleicht nicht.“ „Ja, das Essen hat geschmeckt. Obwohl es Klinikessen war.“
Irgendwann strengen die Sätze an. Irgendwann sage ich sie nur noch, weil ich denke, damit anderen einen Gefallen zu tun. Darum vergleiche ich das Einzelzimmer in der Rehaklinik mit dem Gefühl von Stöhnen und Ausatmen nach tiefem Luftholen: befreiend, heilsam, nötig.