Leitartikel

Tiefe Krise der EU


Die europäische Politik findet keine Antworten, hat kaum Visionen und scheitert daran, sich schon auf kleinste gemeinsame Nenner zu einigen.

Die europäische Politik findet keine Antworten, hat kaum Visionen und scheitert daran, sich schon auf kleinste gemeinsame Nenner zu einigen.

Hilflos, ratlos, mutlos. Europa findet keine Antworten auf die Herausforderungen der Zeit.

Egal ob es um die großen internationalen Krisen geht, wie den Bürgerkrieg in Syrien, die Krise in der Ukraine, den Kampf gegen Terrorgruppen wie den Islamischen Staat (IS), die Al-Nusra-Front oder Boko Haram, Hungersnöte in Afrika oder die anhaltende Flüchtlingskrise (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) - keiner dieser Herausforderungen scheint die EU derzeit gewachsen. Und auch bei den internen Konflikten gibt es keine Lösungen. Die Reformgespräche mit den Briten gestalteten sich zäher und langwieriger als vermutet. Dass nun, nach dem angeblich so entscheidenden Treffen, noch weniger greifbare Ergebnisse vorliegen, als Beobachter im Vorfeld befürchteten, ist ein Beleg dafür: Die europäische Politik findet keine Antworten, hat kaum Visionen und scheitert daran, sich schon auf kleinste gemeinsame Nenner zu einigen. So existenziell wie derzeit war keine Krise der Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten.

Das Hauptproblem: Eine gemeinsame europäische Identität gibt es nicht, stattdessen dominieren nationale Egoismen. Doch auch die EU als Institution ist ziemlich hilflos und vermag es nicht, die notwendige Anziehungskraft zu entwickeln, um als starke Stimme der 28 zu funktionieren. Die Europäische Union tut sich schwer damit, sich auf ihre Werte von Solidarität und einem starken Miteinander zu besinnen. Beim Entgegennehmen von Fördergeldern sind sich dann wiederum alle einig - man greift gerne zu.

Die ständigen Gespräche, Konferenzen, das Ringen um Lösungen bis in die frühen Morgenstunden verdienen zwar Anerkennung. Doch ständiges Reden mit mehr als ernüchternden Ergebnissen, das kann es auf Dauer nicht sein. Wenn der Zustand der Tatenlosigkeit weiter anhält, wird die EU auch international ihre Reputation verlieren. Wer soll denn ein Bündnis noch ernst nehmen, das so gut wie nichts mehr zuwege bringt und sich in der Beschäftigung mit sich selbst nahezu aufreibt?

Zu bürokratisch, zu schwerfällig, zu sehr verhaftet im Klein-Klein - so lauten die wesentlichen Vorwürfe, die man an die Institutionen in Brüssel richten kann. All dies gründet auf dem Problem, dass die EU nach wie vor nicht weiß, was sie eigentlich sein will. Ist sie ein mehr oder weniger lockerer Interessenverbund europäischer Staaten? Oder soll die EU eines Tages die Nationalstaaten völlig ersetzen? Wie unklar sich die EU darüber ist, wurde auch beim Gipfel in Brüssel deutlich. Wieder einmal sind es die Briten und deren Premier David Cameron, die versuchen, den Kontinent vor sich herzutreiben. Zwar böten die Verhandlungen darüber, wie eine EU in Zukunft aussehen kann, durchaus eine Chance, die Gemeinschaft gründlich zu reformieren und Antworten auf die vielen offenen Fragen zu geben. Denn auch überzeugte Europaverfechter wie Parlamentspräsident Martin Schulz werden nicht müde zu betonen, Europa müsse "groß im Großen und klein im Kleinen" sein. Aber die vielen Extrawürste, wie sie Großbritannien wieder einmal für sich braten will, können niemandem wirklich schmecken.

Eine immer engere Union der Völker will Cameron nicht. Dabei ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, die Briten versuchten sich wieder in einer Art europäischer Rosinenpickerei. So einfach darf man Cameron, der seine Bevölkerung vor die Wahl, EU Ja oder Nein, stellen möchte, nicht davonkommen lassen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), betont dazu immer wieder, auch die Briten müssten sich eindeutig entscheiden. Man wolle die Insel in der EU halten; dies wäre ein Vorteil für alle Seiten. Doch schließlich werde sich die Frage stellen, ob die Briten ein Teil der EU bleiben oder alleine ihren eigenen Weg gehen wollen? Die Vorteile eines Binnenmarktes zu genießen, gleichzeitig aber eine Finanzaufsicht für die Londoner City abzulehnen, das passt nicht zusammen.

In den Gesprächen mit den Briten ging es dann noch um Themen wie die Höhe von Kindergeldbezügen und ob EU-Bürger, und wenn ja nach welcher Karenzzeit und in welcher Höhe, in den Genuss von Sozialleistungen in anderen Mitgliedstaaten kommen sollen. Zuletzt ging es vor allem darum, wie lange die Briten diese "Notbremse" bei Sozialleistungen nutzen dürfen. Besonders sexy klingen diese Themen nicht, dabei sind doch solche Angelegenheiten ganz nach dem Geschmack übereifriger Bürokraten und EU-Juristen. Dass am Freitag das geplante Frühstück, dann der Brunch und dann auch der Lunch der Staats- und Regierungschefs immer weiter verschoben wurden, wo man sich doch eigentlich in entspannter Runde auf eine Endfassung eines Abkommens einigen wollte, lässt tief blicken.

Auch zu einem weiteren drängenden Thema sollte der Gipfel ursprünglich Fortschritte liefern: der Flüchtlingskrise. In Gesprächen mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu wollte man ausloten, wie die Türkei dazu beitragen kann, den Flüchtlingsstrom in Richtung Europa zu begrenzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte danach eine Zwischenbilanz ziehen. Doch nach dem Anschlag am Mittwoch in Ankara sagte Davutoglu sein Kommen ab, das Thema Flüchtlingskrise bleibt weiter offen.

Gehandelt haben inzwischen nicht die EU, sondern Einzelstaaten. Die Osteuropäer sagen klipp und klar: Eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quote kommt für sie nicht infrage. Und Österreich legt nationale Obergrenzen fest, sehr zum Missfallen der EU-Kommission, die aber ihrerseits nicht sagt, was man stattdessen tun solle.

Dabei hatte auch die CSU darauf gehofft, dass Merkel nach diesen Gipfelgesprächen von ihrer Flüchtlingspolitik abrücken würde. So viel Zeit hatte man ihr zugestanden. Nun will die Kanzlerin mehr davon, drängt aber auch auf ein neues Treffen der Europäer mit den Türken. Das bringt auch die CSU in die Bredouille. Wie soll Parteichef Horst Seehofer denn nun den Druck erhöhen, wenn nichts feststeht? Welche Bilanz soll man ziehen, wenn es praktisch keine Ergebnisse gibt? Daher kommt auch die angedrohte Verfassungsklage erst einmal nicht und die CSU tut weiterhin das, was sie schon seit Wochen praktiziert: Sie ballt die Faust in der Tasche, gibt sich grimmig entschlossen und dann passiert ... nichts.

Entsprechend saftlos fiel am Freitag auch die Einschätzung von CSU-Chef Horst Seehofer zu den Nicht-Ergebnissen des Gipfels aus. Er bekräftigte, forderte und kündigte an, dass sehr bald schon die CSU ... Und so wie die EU Entscheidungen zur Flüchtlingskrise vertagte, verschob auch Seehofer eine Entscheidung über die angekündigte Verfassungsklage des Freistaats. Auf der kommenden Kabinettssitzung am Dienstag werde man darüber beraten. Und überhaupt: Den Brandbrief aus München hat die Bundesregierung noch nicht beantwortet. Aber der nächste Gipfel bringt die Lösung. Ganz sicher!