Verteidigungspolitik
Ein Jahr «Zeitenwende»: Union zieht kritische Bilanz
27. Februar 2023, 6:00 Uhr aktualisiert am 27. Februar 2023, 16:18 Uhr
Ein Jahr nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" hat die Opposition eine negative Bilanz des bisher Erreichten gezogen.
"Aus einem Jahr Zeitenwende ist ein Jahr der Zeitenverschwendung geworden", sagte der Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag, Alexander Dobrindt, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter hielt der Ampel-Koalition vor, Chancen verpasst zu haben. "Die richtigen Worte aus der Rede von Scholz wurden nicht in ein politisches Programm umgesetzt", sagte er der "Augsburger Allgemeinen".
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken wies die Kritik zwar zurück. Aber auch beim Koalitionspartner FDP wurde Unzufriedenheit laut. "Ein Jahr danach stellen wir fest, dass die Zeitenwende auch in den Kasernen ankommen muss", sagte Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Man müsse zum Beispiel auch im Beschaffungswesen der Bundeswehr besser werden. "Da steht noch sehr viel Arbeit an. Hier hat der Verteidigungsminister eine ganze Reihe von Herausforderungen vor sich."
Scholz hatte wenige Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine einen Richtungswechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik angekündigt. Dazu gehört auch ein 100 Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen zur Modernisierung der Bundeswehr. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagte Scholz in einer Regierungserklärung im Bundestag zum russischen Angriff auf die Ukraine. "Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."
Dobrindt warf der Ampel-Koalition vor, sie habe zwar einen höheren Wehretat versprochen, aber einen niedrigeren beschlossen. Sie habe die Vollausstattung der Bundeswehr angekündigt, aber keine einzige Patrone bestellt. Und sie habe nach langem Zögern schweres Gerät an die Ukraine abgegeben, aber keine Nachbestellungen ausgelöst.
"Der Auftrag an die Ampel lautet jetzt: Beschaffen, beschleunigen, beschützen", sagte Dobrindt. "Dazu gehört auch die Bereitschaft, das Nato-Ziel nicht nur einzuhalten, sondern auf 2,5 Prozent zu erhöhen."
Derzeit gilt im Nato-Bündnis das Zwei-Prozent-Ziel. Es sieht vor, dass sich alle Nato-Staaten bis 2024 dem Richtwert annähern, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung auszugeben.
Kiesewetter argumentierte ähnlich: "Die Bundeswehr hat ungeheure Defizite und die Zeitenwende hat bei ihr bislang noch gar nicht begonnen", sagte er. "Die Truppe hat ein Jahr verloren und ist nun blanker als Anfang 2022." Kiesewetter bezog sich damit auf einen Social-Media-Post von Heeresinspekteur Alfons Mais, der am Tag des Kriegsbeginns geschrieben hatte: "Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da."
Unionsfraktionsvize Jens Spahn (CDU) sagte der "Neuen Westfälischen", die Rede des Kanzlers sei grundsätzlich richtig gewesen. "Leider hat die Bundesregierung die Flughöhe schon am Folgetag nicht mehr gehalten. Der Kanzler bricht seine Versprechen." Vom Bundeswehr-Sondervermögen sei bisher "so gut wie nichts verplant".
SPD-Chefin Esken sagte der "Augsburger Allgemeinen", die Kanzler-Rede habe ein klares Signal an unsere wichtigsten Verbündeten enthalten: "Deutschland wird verteidigungspolitisch reifen." In schnelllebigen Zeiten werde dann verlangt, dass sich dieser Prozess "in Echtzeit" abspiele. "Gerade in der Verteidigungspolitik muss aber ein Teil abseits der Öffentlichkeit geschehen, auch wenn ich verstehen kann, dass der ein oder andere ein Problem damit hat."
Esken bekräftigte in Berlin den Willen, die Bundeswehr gemäß den Ankündigungen der Zeitenwende-Rede deutlich stärker auszurüsten. Schon im Koalitionsvertrag seien viele wichtige Vorhaben zur Stärkung der Bundeswehr, zur Landes- und Bündnisverteidigung vereinbart worden. "Die SPD und auch die anderen Koalitionspartner stehen vollständig dahinter", sagte sie.
Aus dem Sondervermögen wurden im Haushaltsjahr 2022 keine Mittel verwendet. Laut Verteidigungsministerium sind inzwischen aber rund 30 Milliarden Euro verplant. Die Rüstungsindustrie hat sich bereits über die schleppende Auftragsvergabe beschwert. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte am Sonntag in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" an, dass die Rüstungsfirmen künftig Abschlagszahlungen für Aufträge erhalten und nicht erst bei Lieferung bezahlt werden. "Das machen wir jetzt in Zukunft. Einfach auch, um zu dokumentieren, dass Geld abfließt", sagte Pistorius. Er bekräftigte zudem seine Forderung nach einer Aufstockung des Verteidigungshaushaltes.