AZ-Interview mit Soziologen
Jean Ziegler: "1.500 Kinder sind viel zu wenig"
10. März 2020, 22:15 Uhr aktualisiert am 10. März 2020, 22:15 Uhr
Der Schweizer Soziologe und Autor Jean Ziegler spricht mit der AZ über das Versagen der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik und die Ursachen dafür.
München - Der Schweizer Soziologe (85) Jean Ziegler ist Autor etlicher Bücher. Er war erster UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates.
AZ: Herr Ziegler, die deutsche Regierung will sich dafür einsetzen, dass 1.500 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern in anderen EU-Ländern aufgenommen werden. Was halten Sie davon?
JEAN ZIEGLER: Das ist viel zu wenig. Allein im größten Flüchtlingslager Europas, in Moria auf der Insel Lesbos, gibt es über 5.000 unbegleitete Kinder. Kinder, deren Familie unter einem bombardierten Haus in Aleppo begraben wurde; Kinder, die die letzten Überlebenden eines Schiffbruchs in der Ägäis sind. Kinder unter 15 Jahren, von denen manche Selbstmordversuche begehen und andere sich durch Messerstiche in die Arme selbst verstümmeln. Die Psychiater der Ärzte ohne Grenzen sagen, das ist ein Hilferuf, weil die Verzweiflung so groß ist.
Ziegler: "In Moria werden die Menschen behandelt wie Tiere"
Sie haben Moria besucht. Welchen Eindruck hatten Sie von den Bedingungen vor Ort?
In Moria leben 28.000 Menschen seit drei bis vier Jahren hinter Stacheldraht und werden behandelt wie Tiere. Die hygienischen Verhältnisse sind schrecklich, die Nahrung ist ungenügend und häufig ungenießbar. Es gibt eine Toilette für 100 Personen, meist verstopft. Diese Lager müssen sofort aufgelöst und alle Flüchtlinge auf europäische Mitgliedsstaaten verteilt werden.
Danach sieht es im Moment aber nicht aus. Aktuell machen sich schließlich wieder mehr Flüchtlinge von der Türkei aus auf den Weg.
Ja, und der absolute Skandal ist die Entscheidung der Betonköpfe in Brüssel, die Südgrenze Europas hermetisch abzuriegeln. Deshalb sitzen jetzt Zehntausende Menschen auf der türkischen Seite des Grenzflusses Evros fest - auf regendurchnässten Feldern, ohne richtige Nahrung, mit Pappkartons, auf denen sie schlafen. Menschen, die versuchen, nach Europa zu kommen, um dort ein Asylgesuch einzureichen. Asyl ist laut Artikel 14 der UN-Charta und gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ein universelles Menschenrecht. Die Grenzen zu schließen, wie es die EU heute tut, und zu verhindern, dass verfolgte oder bombardierte Menschen um Schutz nachsuchen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ziegler: "Die Eu-Kommission tritt Menschenrechte mit Füßen"
Auf EU-Ebene scheint man das anders zu sehen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Griechen bei ihrer Visite an der Grenze 700 Millionen Euro für zusätzliche Schutzmaßnahmen versprochen.
Das waren schreckliche Bilder, die nicht aus dem Gedächtnis verschwinden: Frau von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli in einem schwarzen Nato-Helikopter, die über diese Menschenmassen fliegen wie Feldherren in einem Krieg. Und dann erzählt Frau von der Leyen in gepflegtem Französisch, dass sie die Südgrenze Europas mit Hunderten Millionen Euro aufrüsten will; für die griechischen Sondereinheiten, die brutal Flüchtlinge zusammenschlagen - und drei zusätzliche Kriegsschiffe für Frontex, um Flüchtlinge im Mittelmeer abzufangen. Das ist die Liquidation des moralischen Fundamentes der EU.
Wie genau meinen Sie das?
Europa wurde als kontinentaler Rechtsstaat gegründet. Das Fundament der Gründerverträge von 1957, der Römischen Verträge, sind die Menschenrechte. Wenn die Kommission nun diese Menschenrechte so total mit Füßen tritt, ist das gefährlich für die Zukunft Europas: Die Kredibilität verschwindet, das moralische Fundament zerbröckelt. Einen Austritt hat es bereits gegeben, andere werden folgen. Deshalb ist die EU an der Schwelle des Selbstmordes, wenn sie nicht endlich erwacht, das Asylrecht wieder herstellt - und damit aufhört, Flüchtlinge als Feinde Europas und der europäischen Lebensweise zu begreifen. Das sind Menschen in Not. Was uns von ihnen trennt, ist der Zufall der Geburt - nichts anderes.
Sie fordern eine Liberalisierung der europäischen Flüchtlingspolitik. Die jüngsten Entwicklungen gehen jedoch in die entgegengesetzte Richtung.
Deshalb müssen wir aufstehen, uns organisieren und unsere Regierungen mit allen verfassungsrechtlichen Bürgerfreiheiten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit dazu zwingen, eine radikal andere Flüchtlingspolitik zu machen - nämlich eine der Gastfreundschaft und des Schutzes.
Ziegler: "Europa hat sich von Erdogan abhängig gemacht"
Wie wollen Sie das Hardlinern wie dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán klarmachen?
Orbáns Schlägerpolizei verfolgt jeden Flüchtling, der ungarisches Territorium betritt und steckt jeden, den sie fasst, drei Jahre ins Zuchthaus. Dabei gibt es nach der Konvention keine illegale Grenzüberschreitung durch einen Flüchtling. Trotzdem kann man auch jemanden wie Orbán zu einer neuen, humanitären Flüchtlingspolitik bringen - und zwar ganz einfach: Ungarn lebt zu fast 80 Prozent von milliardenschweren Zuwendungen aus Brüssel. Würde man diese Zahlungen aussetzen, was reglementarisch möglich ist, käme der sofort zur Vernunft.
Im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung steht ein anderer Präsident: Recep Tayyip Erdogan aus Ankara, der Flüchtlinge an die griechische Grenze karren lässt, weil er im Rahmen des Flüchtlingspaktes mit der EU mehr Geld haben möchte. Hat sich Europa mit diesem "Deal" erpressbar gemacht?
Natürlich. Pro Asyl und Medico International haben den Deal schon 2016 als "reinen Wahnsinn" bezeichnet. Einerseits beschränkt dieser Vertrag das Asylrecht willkürlich auf eine Nationalität - nämlich die Syrer. Und zweitens hat sich Europa abhängig gemacht von einem internationalen Missetäter wie Erdogan. Jetzt sieht man das Resultat.
Immerhin hat der Pakt mit der Türkei der EU eine mehrjährige "Verschnaufpause" verschafft. Was ist seitdem schiefgelaufen?
2016 wurde zwischen der Kommission und den Mitgliedsstaaten ein "Relocation-Plan" ausgehandelt. Basierend auf den Kriterien Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungsstärke wurde jedem der damals noch 28 Mitgliedsländer ein Kontingent an Flüchtlingen zugewiesen. Die osteuropäischen Staaten haben sich geweigert, mitzumachen. Also wurde der "Relocation-Plan" nicht umgesetzt.
Ziegler: "Mit Rassisten darf man nicht verhandeln"
Ist das der alleinige Grund für das fortdauernde Chaos?
Nein, hinzukommt: Die Rückweisung der Flüchtlinge, die unmenschlichen Zustände in den Hotspots - all das zielt darauf ab, die Flüchtlingszahlen herunterzufahren. Menschen, die wegwollen aus ihrem Land, soll signalisiert werden: Ihr habt keine Chance. Davon verspricht sich die Kommission, xenophobe Bewegungen - die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich, Salvinis Lega in Italien - zu schwächen. Aber das ist historisch betrachtet ein Irrtum. Das ist München 1938. Damals haben Daladier und Chamberlain zu Hitler gesagt: "Sie können das Sudetenland annektieren, aber Krieg dürfen Sie dann keinen machen." Und was war das Ergebnis der Appeasement-Politik? Annexion - und Krieg. Mit Rassisten darf man nicht verhandeln. Man darf ihnen kein bisschen entgegenkommen. Das sind Feinde der Menschheit. Das hat die Geschichte gezeigt.
Jean Ziegler schildert die Zustände im Lager Moria in seinem aktuellen Buch "Die Schande Europas", C. Bertelsmann, 15 Euro