Karfreitagsabkommen
Nordirland: Ein Parlament ohne Parlamentarier
5. April 2023, 14:17 Uhr
Der Weg nach "Stormont" ist lang. Fast 20 Minuten ist man von der Hauptstraße zu Fuß unterwegs, um das Regierungsgebäude zu erreichen. Es liegt auf einem Hügel im Osten Belfasts. "Stormont” ist nahezu leer, wieder einmal. Wo eigentlich Gesetze für Menschen im nördlichen Landesteil des Vereinigten Königreiches diskutiert und abgesegnet werden sollten, herrscht Stille.
An den Ausnahmezustand gewöhnt, reagieren viele Menschen in Belfast mit Desinteresse auf die politische Situation. Andere sind verärgert: "Wir benötigen dringend eine Regierung. Es ist eine Schande, dass eine Partei alles aufhalten kann. Und sie werden immer noch bezahlt", sagt die 66-jährige Rosemary, eine pensionierte Bibliothekarin, die aus einer katholischen Familie stammt, sich aber als Buddhistin versteht. Existenziell ist die Lage für jene, die ein kleines Unternehmen führen, wie Ugur. Der 54-Jährige besitzt ein Café im Süden der Stadt. An den Wänden hängen gerahmte Sinnsprüche. Während sein Lokal Leichtigkeit verbreiten soll, leidet er. Weil es keine Regierung gibt, habe er dringend nötige finanzielle Hilfen nicht erhalten. "Die Zeiten sind hart."
Karfreitagsabkommen: Ein Gedenk- und kein Feiertag
Das Regionalparlament tagt schon seit Februar vergangenen Jahres nicht mehr. Seit Mai 2022 verweigert die erzkonservative protestantische Partei "Democratic Unionist Party" (DUP) die Regierungsbildung mit der republikanischen Sinn-Féin-Partei - aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll. Es trägt in seiner überarbeiteten Fassung nun den Namen "Windsor Framework". Namensgeber war das Städtchen westlich von London, wo der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den überarbeiteten Brexit-Deal Ende Februar dieses Jahres vorgestellt hatten. Nordirland könne zu einem der "aufregendsten Wirtschaftsräume der Welt" werden, mit ungehindertem Zugang sowohl zum britischen als auch zum europäischen Markt, sagte Sunak kürzlich bei einem Besuch einer Cola-Fabrik im nordirischen Landkreis Antrim.
Die Unionisten, die eine enge Anbindung an London suchen, sehen den Deal jedoch in einem anderen Licht. Sie stören sich daran, dass durch das Abkommen die Zollgrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland in die Irische See verlegt wurde. Dadurch sollen Kontrollen in der einst vom Bürgerkrieg gebeutelten Region nach dem Brexit verhindert werden. Für sie rückte das britische Festland durch das Rahmen-Gesetz in noch weitere Ferne. "Es war unter anderem der Austritt aus der Union, der das empfindliche Kräfteverhältnis in der Region gestört hat”, betont die Politologin Lisa Whitten von der Queen's University in Belfast.
"Angesichts der Pattsituation ist der Jahrestag des 25. Karfreitagsabkommens für die Menschen in Nordirland eher ein Gedenk- als ein Feiertag", sagt Gareth Harper, Leiter der Organisation "Peace Players" in der Region.
Der Streit um die Insel hat eine lange Vorgeschichte
Das Projekt ermöglicht Begegnungen zwischen Katholiken und Protestanten über einen Sport, der anders als Fußball oder Rugby neutral ist: Basketball. "Kinder, die miteinander Sport treiben, können auch miteinander leben", erklärt er in seinem Büro im Süden Belfasts. So sollen sie sich selbst ein Bild von ihrem Gegenüber machen, jenseits von Ressentiments, die die Gesellschaft immer noch prägen. Denn obwohl das Karfreitagsabkommen als mit Abstand wichtigster Meilenstein in den Bemühungen um Frieden in der Region gilt, ist dieser längst nicht sicher.
Der Vertrag, der am 10. April 1998 in Belfast unterzeichnet wurde, legte unter anderem fest, dass Unionisten und Nationalisten im Regionalparlament gemeinsam regieren sollen. Überdies können Nordiren die irische Staatsangehörigkeit erhalten. Zusätzlich entspannte sich die Lage, weil es aufgrund der Reisefreiheit innerhalb der EU zwischen Nordirland und Irland keine harte Grenze mehr gab. Eine große Mehrheit der Bevölkerung stimmte damals in einem Referendum für das Abkommen. 2005 erklärte die Provisional Irish Republican Army, kurz IRA, den bewaffneten Kampf für beendet.
Eskaliert war der ideologische Konflikt zwischen Unionisten und Republikanern zwischen 1968 und 1998 während der "Troubles", erklärt der Stadtführer Paul Donnelly, während er Touristen an einem wolkenverhangenen Märztag durch Belfast leitet. Er stoppt im Zentrum der Stadt vor einem Fanshop des "Liverpool FC". Wo heute Trikots verkauft werden, explodierte am 4. März 1972 in einem Restaurant eine Bombe. Bei dem Anschlag starben zwei jungen Frauen, 130 Menschen wurden teils schwer verletzt, verloren Gliedmaßen und Augen. "Viele, die das erlebt haben, meiden noch heute diese Straße." Sie berichten von Flashbacks, Erinnerungen an Bilder, Gerüche.
Der Streit um den nordöstlichen Teil der irischen Insel, das heutige Nordirland, hat eine lange Vorgeschichte, auch das macht er klar. Seit dem 17. Jahrhundert siedelten sich dort protestantische Engländer und Schotten an, die anglikanisch-britische Elite gewann an Einfluss. Nach dem Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1920 wurde im Süden die heutige Republik Irland gegründet, Nordirland blieb Teil des Königreichs. Während Unionisten eine Entfremdung und Abkoppelung von London und in der Folge eine Wiedervereinigung Irlands fürchten, setzen sich Republikaner für ein vereintes Irland, also für die Loslösung aus dem Vereinigten Königreich ein - bis heute. Obwohl Konflikte schwelen, entwickelte sich Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen in die richtige Richtung, betont Whitten. Wo einst aufwendige Kontrollen, gepanzerte Fahrzeuge, Sicherheitskräfte und Straßensperren zum Alltag der Menschen in Belfast gehörten, ziehen heute zahlreiche Pubs und Restaurants Bewohner und Touristen an. Beim St. Patrick's Day, eigentlich ein traditionell irisches Fest, feiern in Belfast auch viele Protestanten mit und genießen den freien Tag.
Das Problem: "Hier geht es um Grün und Orange"
Während die DUP den Windsor Framework weiter ablehnt, argumentieren andere, dass der Deal mit der EU die Situation in Nordirland stabilisieren könne. Schließlich geht es dem Landesteil infolge seiner wirtschaftlichen Sonderstellung besser als dem Rest des Vereinigten Königreiches. "Als Ganzes ist das ein hervorragendes Paket für Nordirland", sagt ein Besitzer eines "Fish and Chips"-Shops in einem protestantischen Viertel der Stadt. "Doch hier geht es nicht um Politik, hier geht es um Grün und Orange. Da liegt das Problem."
Die Unionisten wurden im Mai 2022 bei den Parlamentswahlen zum ersten Mal nicht mehr zur stärksten Kraft gewählt. Insbesondere junge Wähler identifizieren sich häufig weder mit dem republikanischen noch mit dem nationalistischen Lager. Das beeindruckende Ergebnis der "Alliance Party" ist Ausdruck dieses Trends. Weil die DUP viele Stimmen an sie verlor, müssen sie nun aus der schwächeren Position der Sinn-Féin-Partei gegenübersitzen, die einst als politischer Arm der RAF galt. Viele vermuten dies als den eigentlichen Grund, warum die Partei nicht nach "Stormont" zurückkehren will.
Rishi Sunak trieb den Deal mit der EU trotz der Blockade durch die DUP voran. Am 24. März besiegelten der britische Außenminister James Cleverly und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic das überarbeitete Abkommen. "Der Frühling ist eine Saison des Neuanfangs", sagte Sefcovic. Und betonte erneut, wie wichtig das Abkommen sei - für Nordirland, aber auch für die Kooperation zwischen Großbritannien und der EU. Unternehmen unter anderem in Belfast hoffen jetzt, dass viele Probleme, die das ursprüngliche Protokoll verursachte, wie hohe Kosten durch Papierkram, bald Geschichte sind. So sollen Waren, die aus Großbritannien nach Nordirland kommen und dort verbleiben, weniger kontrolliert werden. Außerdem soll die Lokalregierung Einspruch gegen europäische Gesetzte einlegen dürfen - durch die sogenannte "Stormont Brake".
Gareth Hagan, stellvertretender Leiter des Beratungsunternehmens "OCO Global", spricht in einem Café in Belfast sichtlich begeistert von den Chancen durch den "Windsor Framework". "Er bietet das beste von beiden Welten." Rund um das "Titanic Belfast"- Museum könnten sich Technologie-Unternehmen ansiedeln, aus Großbritannien und dem Rest der Welt. "Es ist kein Zufall, dass der Deal kurz vor dem 25. Jahrestages des Karfreitagsabkommens zustande kam. Es ist ein bedeutender Moment, der nun hoffentlich im Zeichen der Hoffnung steht." Auch Micky McCoy beendet seine Tour durch das Parlamentsgebäude optimistisch. Er hofft, dass die Regierung bald wieder an die Arbeit geht. Beim Abstieg erscheint ein Regenbogen über "Stormont".