AZ-Interview mit dem EU-Kommissar
Timmermans: "Wir müssen Europa dringend umbauen"
2. April 2019, 6:43 Uhr aktualisiert am 2. April 2019, 6:43 Uhr
Der Niederländer Frans Timmermans (57) ist der Vizepräsident der EU-Kommission und Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten für die Europa-Wahl im Mai.
München - Frans Timmermans spricht mit der AZ über Politikverdrossenheit, das Ringen mit London und seine Vision von einer gerechten EU.
AZ: Herr Timmermans, haben Sie noch Hoffnung, dass ein ungeordneter Brexit verhindert werden kann?
FRANS TIMMERMANS: Ja, ich habe noch Hoffnung. Die Konsequenzen eines harten Brexits sind schlimm für Großbritannien, aber auch schlimm für die EU. Da muss man versuchen, noch eine Lösung zu finden. Aber die Lösung kann nicht von uns gefunden werden. Sie muss aus London kommen. Die Briten haben jetzt bis zum 10. April Zeit zu entscheiden, was sie wollen. Dann kommt der Europäische Rat zusammen, dann sehen wir weiter.
Weitere Zugeständnisse der EU-Kommission an die Briten schließen Sie aus?
Wir haben beim Austrittsabkommen wirklich alles getan, was wir machen konnten. Würden wir noch weitergehen, würden wir dem Binnenmarkt schaden. Man muss sich klarmachen, was die Briten bislang wollen: keine Zollunion, keinen Binnenmarkt, aber auch keine Grenzen. Sollten sie also zum Beispiel irgendwann ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten abschließen, dann würde das Chlorhuhn über Großbritannien auch in die EU gelangen. Das können wir unseren Bürgern gegenüber nicht verantworten. Wir sind bei den Verhandlungen buchstäblich bis an unsere Grenzen gegangen.
Timmermans: "Wir sind bei den Brexit-Verhandlungen an unsere Grenzen gegangen"
Es gibt auch Überlegungen, den Brexit noch längere Zeit hinauszuschieben. Dann müssten die Briten allerdings an der Europawahl teilnehmen. Ist das noch vertretbar?
Wenn es tatsächlich zu einem Szenario kommt, dass es mehr Zeit für den Brexit braucht, dann muss es auch in Großbritannien eine Europawahl geben. Das ist einfach der Vertrag. Da haben wir keine Alternative.
Nicht nur viele Briten können mit der Europäischen Union nichts mehr anfangen ...
Die Zustimmung zu den europäischen Institutionen mag nicht hoch sein, die Zustimmung zur EU hingegen ist massiv. Da gibt es nur zwei Ausnahmen: Tschechien hatte schon immer jeder Macht gegenüber ein ironisches Verhältnis. Deshalb ist dieses Land auch so wunderbar. Italiens Ablehnung hat mit der Migrationskrise zu tun. Mit einer gewissen Zeit können wir das auch wieder überwinden. Wenn Sie aber etwa nach Polen schauen, wo man mir immer wieder gesagt hat, ich wäre zu hart gegenüber der Regierung und würde den Polexit herbeiführen …
Timmermans: "Die Zustimmung zur EU ist massiv"
… weil Sie als Vizepräsident der EU-Kommission immer wieder Rechtsstaatlichkeit angemahnt haben …
… da ist die Unterstützung für die EU in den vergangenen drei Jahren tatsächlich größer geworden. Dass die Gemeinschaft klare Regeln hat und für diese auch eintritt, ist populär bei den Leuten.
Gleichwohl wird auch Ihnen immer wieder Skepsis gegenüber der EU begegnen.
Natürlich gibt es auch Europaverdrossenheit in der europäischen Bevölkerung, so wie es im Allgemeinen eine Politikverdrossenheit in der Bevölkerung gibt. Auch ist die Kritik bei Europa naturgemäß größer, weil der Abstand größer ist.
Wie lassen sich die Menschen also für die EU gewinnen?
Wir reden nicht genug darüber, was für ein Schicksalsprojekt die EU ist. Viel zu oft werden in der Politik die europäischen Beziehungen auf Finanztransaktionen reduziert. Damit nehmen wir Europa die Seele. Wir sind nicht in der EU, nur weil es besser für die Wirtschaft ist. Wir sind in der EU, weil es das einzige Projekt ist, das auf diesem Kontinent zu über 70 Jahren Frieden geführt hat.
Timmermans: "Die traditionellen Parteien denken zumeist nur ans Praktische"
Wir sollen also mehr über die Vergangenheit reden?
Nicht, ohne Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Sehr oft sind es nur die Rechtsradikalen, die über größere Vorstellungen für unsere Gesellschaft reden. Die traditionellen Parteien denken zumeist nur ans Praktische. Dabei müssen wir viel mehr Visionen auf den Tisch legen und diese auch offensiv verkaufen. Wenn die Rechtsradikalen uns vorwerfen, Nachhaltigkeit sei ein Projekt der Elite, dann kann ich nur erwidern: Na, hört mal, wenn es schiefgeht mit der Luft in den Großstädten, dann kann sich die Elite ein Haus in St. Moritz kaufen. Die einfachen Leute können das nicht, die stecken dann im Dreck.
Zu den sozialdemokratischen Visionen für Europa gehören mehr Sozialstaatsleistungen ...
Wenn bei den Leuten nur ankommt, dass wir mit ihren Steuergeldern Banken retten, sie selbst aber nichts davon haben, dann haben wir alle ein Problem. Dann hat das System ein Problem. Deshalb müssen wir Europa dringend umbauen. Und wenn wir eine nachhaltige Gesellschaft wollen, dann müssen wir mit der sozialen Nachhaltigkeit anfangen. Das ist für mich die Lehre auch aus den Protesten in Frankreich. Die Gelbwesten sind nicht gegen Nachhaltigkeit, sie wollen nur nicht allein dafür zahlen. Deshalb müssen wir zeigen, dass wir das auf eine ehrliche Art und Weise machen können - indem wir unsere Steuersystematik wieder gerecht machen, alle Unternehmen ihre Gewinne in Europa auch versteuern müssen, Löhne gerechter werden und Arbeitnehmer Schutz erhalten. Dann sehen die Leute, dass Europa ihnen etwas bringt. So weit sind wir noch nicht, aber daran will ich in den nächsten Jahren arbeiten.
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