Bayern

Stadtgeschichte zum Mitnehmen: Streifen, Aldi und ein Lüftungsschacht

"Munich Art To Go" ist ein Mitmach-Projektdes Zentralinstitutsfür Kunstgeschichte- und lässt einen die Stadt völlig neu erleben.


Streifen-Mode: die 2020 und 2021 von Aldi Nord herausgegebene Modekollektion "Aldi-Original".

Streifen-Mode: die 2020 und 2021 von Aldi Nord herausgegebene Modekollektion "Aldi-Original".

Von Thomas Müller

Sie sind neu - und sie sind richtig gut: die virtuellen Stadtspaziergänge namens "Munich Art To Go"- Münchner Stadt-, Kunst- und Kulturgeschichte quasi zum Mitnehmen für unterwegs. Oder Reinlesen für daheim. Und das völlig gratis.

Das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte (ZI) macht damit seine wertvollen Archivbestände allen Interessierten einfach und anschaulich zugänglich. Mit der neuen App "Munich Art To Go".

Aufs Handy, Tablet (oder auch auf dem heimischen Desktop-Rechner) geladen, können einzelne, geschichtsträchtige Örtlichkeiten in München erkundet werden. Und mit Hilfe einzigartiger Dokumente aus dem Bildarchiv und der Bibliothek des ZI wird daraus eine echte Zeitreise in die Kunststadt München von 1800 - bis heute.

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Das bekannte Streifen-Muster Fruhtrunks hinterm Stachus - an einem Lüftungsschacht, neben der Pizzeria "Bella Italia".

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Hier sieht man die Streifen noch ein bisschen besser.

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Ausstellung: Kunstwerke von Günter Fruhtrunk 2006 im Lenbachhaus.

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Streifen-Kunst: Tiefkühltasche von Aldi Nord.

Die einzelnen "Stories", angelegt von ZI-Mitarbeitern und Kunstgeschichtsstudenten der LMU, zeigen dabei neben Infos auch historische Aufnahmen, die sich vor Ort mit dem heutigen Zustand vergleichen lassen. 40 Orte mit viel Geschichte und Geschichten sind es bereits. Und: Es werden immer mehr.

Jeder, der mag, kann oder interessiert ist, darf übrigens mitmachen.

In einer AZ-Serie stellen wir einige dieser kunst- und kulturhistorischen Stadtrundgänge vor.


Im Netz zu finden unter: municharttogo.zikg.eu/

Und im App-Store unter: MunichArtToGo

Streifen, Aldi und ein Lüftungsschacht

Hinterm Stachus wartet eine Besonderheit: ein künstlerisch sehr wertvoller, turmartiger Schacht mit einer ganz besonderen Gestaltung des Münchner Künstlers Günter Fruhtrunk.

Kleine architektonische Überraschung gefällig? Vielleicht auch da, wo man es kaum vermuten würde? An einem Objekt, das man vordergründig nur bedingt mit Kunst in Verbindung bringen würde? Aber gern.

Einen Steinwurf weg vom Stachus ist das architektonische Juwel zu finden, an der Herzogspital, Ecke Herzog-Wilhelm-Straße, gleich neben der in München weithin bekannten Pizzeria "Bella Italia": ein fensterloser oktogonaler Turm ragt hier in den Himmel. Ein Lüftungsschacht des darunterliegenden U-Bahntunnelsystems zwischen Stachus und Sendlinger Tor.

Erbaut wurde er vom italienischen Architekten (mit Architekturbüro in München) Paolo Nestler († 2010). Der hat in München übrigens auch die U-Bahnhöfe Münchner Freiheit, Sendlinger Tor, Nordfriedhof, Giselastraße, Dietlindenstraße, Odeonsplatz, Goetheplatz, Implerstraße, Harras, Klinikum Großhadern und Mangfallplatz gestaltet.

Das Besondere aber ist die Ummantelung des Lüftungsschachts, die der Münchner Maler und Grafiker Günter Fruhtrunk († 1982) gestaltet hat.

Der Künstler hatte 1970 die Professur für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in München übernommen. Sein populärstes Werk: eine Einkaufstüte. Aber was heißt eine - die Einkaufstüte mit den ikonischen Streifen, eine Auftragsarbeit für Aldi Nord.

Wie die Autorin Sonja Nakagawa auf der App "Munich Art to Go" beschreibt, soll er nach seinem Aldi-Coup seinen Studenten 1970 beschämt gestanden haben: "Ich habe gesündigt." Als Strafgeld habe er demnach 400 Mark in die Klassenkasse entrichtet. Kunst und Discounter-Kommerz - das ging ihm damals dann doch zu weit.

Eine Abneigung gegenüber der Einbettung seines Werkes in ein massenhaft reproduzierbares Produktdesign, wie Nakagawa mutmaßt, oder die Äußerung eines ambivalenten Erfolgsgefühls? Wer weiß.

Fakt ist, dass diese Streifen (leicht modifiziert) bis heute das Design bei Aldi Nord prägen - etwa auf der Recycling-Tiefkühltasche (59 Cent) oder der Mehrweg-Tragetasche für 55 Cent.

Erst vor drei Jahren brachten der Schauspieler Lars Eidinger und der Designer Philipp Bree eine Tasche auf den Markt als eine Hommage an Günter Fruhtrunk - in limitierter Stückzahl. Für 550 Euro das Stück. Und Aldi Nord brachte 2020/21 die Modekollektion "Aldi-Original" heraus mit den bekannt-markanten diagonalen weißen und blauen Streifen.

Was das alles mit dem Lüftungsschacht am Stachus zu tun hat? Sehr viel. Denn Günter Fruhtrunk hat dort seine farbintensiven Streifen in den öffentlichen Raum verfrachtet, als er 1971 einen echten Hingucker an der Herzog-Wilhelm geschaffen hat. Eben sein Markenzeichen, das sich in seiner gesamten dynamischen Formensprache wiederfindet: farbintensive Bilder aus parallelen, orthogonalen oder diagonalen, farbigen, in Streifen gebündelten Vektoren.

Für die Farbgestaltung des Lüftungsschachts wurde Fruhtrunk 1977 übrigens mit dem ersten Preis auf der "Constructa" in Hannover ausgezeichnet.