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Kurzgeschichte von Annalena Leitermann: Kellergang in Pilsen


"Kellergang" - eine Kurzgeschichte von Annalena Leitermann

"Kellergang" - eine Kurzgeschichte von Annalena Leitermann

Von Annalena Leitermann

Freier Fall. Mein damaliger Physiklehrer wäre bestimmt stolz auf mich gewesen, wenn ich diesen Begriff bei einer Abfrage gewusst hätte. Da ich in Physik eine riesengroße Niete war, was sich aber durch eine schicksalhafte Fügung geändert hat, ist es trotzdem sehr ungewöhnlich, dass mir ausgerechnet zu dieser Zeit dieser Begriff einfällt. Ich - ein Physikgenie ohnegleichen mit einem Hang zum Aberglauben - wusste ganz genau, dass ich mich nicht auf diese Fahrt einlassen hätte sollen.

Pilsen, Kulturhauptstadt 2015, ist eine überaus strukturierte Stadt, wobei an jeder Ecke Brunnen wie Blumen sprießen. Während das Plätschern der Springbrunnen draußen zu hören war, begann die Führung mitten in den Untergrund von Pilsen. Die Gänge, vor Hunderten von Jahren gebaut, bilden ein Netz, das sich quer unter der Stadt erstreckt. Obwohl ich eine gewisse Distanz zur Geschichte wahre, machte meine Freundin vor Kurzem den Vorschlag, dass wir durch einen Ausflug unsere Beziehung festigen sollten. Schön und gut, sie kann ja fahren, wenn sie unbedingt will. Aber nur über meine Leiche! Geschichte ist Geschichte. Nichts weiter. Punkt. Aus. Amen. Leider sind Frauen allgemein sehr überzeugend, was sich in einer seelischen Tortur in den vergangenen Wochen äußerte: Man(n) gibt nach. Freundin ist wieder gut gelaunt.

In diesem Moment mache ich mir eher um meine geistige Gesundheit sorgen, nicht um meine Freundin. Ihr geht es sicherlich gut. Ich fühle mich jedoch so, als würde ich gerade zum Mittelpunkt der Erde reisen. Wie ein rasender Komet im Inneren der Erde, bereit für eine Bruchlandung und eine radikal startende Explosion. Gerade als ich das Gefühl habe, dass mein Körper von den wirkenden Kräften entzweigerissen wird, lande ich sanfter als erwartet auf einem ebenen, braunen Fleckchen Erde. Zuerst traue ich meinen Augen nicht, als ich ein Kamel vor mir stehen sehe. Nicht nur, weil ich noch nie ein Kamel in echt gesehen habe, sondern auch, weil mir dieses besagte Kamel sein gekautes Gras ins Gesicht spuckt. Kein Wunder, dass der damals herrschende, römische Kaiser wortwörtlich die Schnauze von dem Tier voll hatte, weswegen er Pilsen verschenkt hatte. Jedenfalls ist das der einzige Grund, aus dem ich mir meine derzeitige Delokalisation erklären kann. Verwirrt sehe ich mich um und wende mich von dem Prachtexemplar von Kamel ab.

Plötzlich befinde ich mich genau in der Mitte zweier Armeen, die anscheinend nicht zum Kaffeekränzchen zusammengekommen sind. Woran ich das erkenne? Von beiden Seiten sind Speere auf mich gerichtet, bereit mich wie ein Schaschlik-Stück aufzuspießen.

Ein Klang lässt mir die Haare zu Berge stehen. Gänsehaut breitet sich über meinen ganzen Körper aus, als mir bewusst wird, dass die Schlacht ihren Anfang nimmt, der nicht zu meinen Gunsten steht.

Ehe sich die beiden Heere treffen, komme ich zurück zu dem zweihöckrigen Kamel. Dieses Mal ist es jedoch nicht mehr an einem Seil an einen Zeltpfosten angehängt, sondern wird von zwei Männern in Rüstung weggeführt. Aus reiner Neugier, die mich selbst überrascht, folge ich ihnen.

Sie führen das Tier weg vom Lager geradezu in die Stadt Pilsen hinein. Diebstahl? Ja, möglich. Die Vergangenheit ist gar nicht einmal so langweilig, wie sie zu sein scheint. Sie kann ja direkt spannend sein. Ich bin live dabei, einen Eklat zu verfolgen, und keiner bemerkt es. Ich fühle mich wie Sherlock Holmes, nur in einer etwas abgespeckten Form. Die Gewichtskraft zieht mich jedoch wieder auf den Boden, der es mir nicht erlaubt, größenwahnsinnige Gedanken zu haben. Fatal wäre eine unüberlegte Handlung, die mir sehr wahrscheinlich unterlaufen wird, wenn ich meine Neugier nicht eingrenze. Aber mein Ego lässt es nicht zu, dass ich mich von der Situation abwende. Meine Eltern würden mir sicherlich eine scheuern, wenn sie hier wären. "So etwas gehört sich nicht", würde meine Mutter klagen. Mein Vater würde mir nur ein paar mahnende Blicke zuwerfen, dass ich meine Mutter nicht weiter aufregen soll. Denn Man(n) ist glücklich, wenn Frau glücklich ist.

Wunderbar ist meine familiäre Eintracht und jetzt muss ich mich wieder auf den Diebstahl konzentrieren, der gerade vor meinen Augen abläuft. Beziehungsweise abgelaufen ist. Das Kamel ist weg. Mit ihm seine zwei Entführer. Max, das hast du wieder super hingekriegt! Innerlich klopfe ich mir auf die Schulter, da es einfach nur zu mir passt. Keiner wäre so verpeilt und würde so etwas Peinliches hinbekommen. Ehe ich mich jedoch besonders hineinsteigern kann, wird mir ganz schwarz vor Augen.

Prompt lande ich auf einer Mauer. Schlagartig klammern sich meine Hände an den Steinen fest, nachdem ich mich auf diese gelegt habe. Das Karma spielt anscheinend gerne mit meinen Ängsten.

Als ich kurz nach unten und in die weite Ferne blicke, sehe ich Männer in schimmernden Rüstungen und andere in einfachen Gewand auf die Mauer zurasen. Ach du meine Güte, schon wieder ein Angriff! Das Karma spielt anscheinend gerne mit meinem Leben. Unter lautem Gegröle stürmen sie auf die Mauer zu, obwohl es fast schon lächerlich erscheint. Denn unmittelbar neben der Mauer befindet sich ein breiter Wassergraben und die Mauer ist aus massiven Stein erbaut. Ich wage zu behaupten, dass Pilsen durch diese Männer nicht erobert werden kann.

Den weiteren Verlauf bekomme ich nicht mehr zu sehen, da dieses Gefühl wieder in mir hochkommt. Es fängt mit einem langsamen Kribbeln an und steigert sich in einen tosenden, innerlichen Tsunami. Es fühlt sich an, als würde es meinen Körper auseinanderreißen und als würde er anschließend wieder zusammengenäht werden. Nur, dass diese Prozedur noch einige weitere Male wiederholt wird. Erneut fühle ich mich wie ein rasender Komet, ehe ich mich wieder in der Zeit vorfinde, die ich unfreiwillig verlassen musste. Dankbar werfe ich mich auf den Boden und küsse ihn. Erst jetzt bemerke ich die Menschen um mich herum.

"Was ist los?", frage ich. Meine Freundin klärt mich auf: "Du bist ohnmächtig geworden, als du dir deinen Kopf an der niedrigen Decke angeschlagen hast. Die Kellergänge sind eben für kleine Leute gemacht worden."

Annalena Leitermann ist 16 Jahre alt und kommt aus Eschlkam.

Annalena Leitermann ist 16 Jahre alt und kommt aus Eschlkam.