26. April 2010, 15:05 Uhr
aktualisiert am 26. April 2010, 15:05 Uhr
Von
Redaktion idowa
Heute hat das Schaukeln wieder angefangen, und wir haben recht günstigen Wind - noch, denn das Wetter schlägt ständig um, was unseren Weg zu den Azoren zum Nervenspiel macht. Denn vom Wind sind wir abhängig, da wir uns auf 50 Meter Traditionssegler zusammengepfercht wieder finden. Wir - das sind ein Kapitän, eine Projektleitung, ein Filmteam, ein Bordarzt, vier Lehrer, zehn Personen Stammbesatzung und 30 bayerische Gymnasiasten.Was ich hier mache? Ich nehme am KUS- Projekt, dem Projekt "Klassenzimmer unter Segeln" der Universität Erlangen-Nürnberg, teil. Zusammen mit 29 anderen Zehntklässlern aus Bayern habe ich die Heimat für sechs Monate hinter mir gelassen, um mit dem Projekt unter dem Aspekt der Erlebnispädagogik eine Reise um die halbe Welt zu unternehmen.
Wir befinden uns auf der Thor Heyerdahl, einem knapp 50 Meter langen traditionellen Segelschiff, und von unserer Reise ist nun noch ein Monat verblieben. Während der letzten fünf Monate haben wir viel gelernt, über das Segeln, über andere Kulturen, die wir in mehrwöchigen Landaufenthalten hautnah erlebt haben, über unsere Gruppe, über uns selbst. Natürlich blieb uns auch die schulische Weiterbildung nicht erspart, und so haben wir an Bord Unterricht, der uns die wichtigsten Inhalte unseres Lehrplans praxisorientiert nahe bringt. Durch das Leben auf See wird der Unterricht viel persönlicher, denn aufgrund des laufenden Wachbetriebs, also des Fahrens des Schiffes, und der unvermeidbaren Nähe zu allen auf dem Schiff - Lehrer, Schüler, Stamm und Leitung - wird zu jedem ein sehr nahes Verhältnis aufgebaut.
Der Unterricht an Bord ist sehr persönlich
Und nicht nur an Bord, sondern auch an Land erleben wir alles als Gruppe: Wir waren auf Teneriffa, haben zusammen den Atlantik überquert, waren in Grenada, in Panama, in Kuba und auf den Bermudas, und unsere letzte Station liegt nun nur noch wenige Meilen entfernt vor uns, die Azoren. Auf jeder Insel, in jedem Land, das wir besucht haben, haben wir ortsbezogene Themen im Unterricht behandelt. Durch das Leben in der Fremde haben wir außerdem viel gelernt, das uns auf das Leben nach der Schule vorbereitet. Und genau das macht den Unterricht hier an Bord so besonders, denn er läuft viel selbstständiger, viel personenbezogener ab als in einer normalen Schule. Selbst im äußerst seltenen Lehrer-Klasse Vortrag lernt man die Dinge viel leichter, weil der Stoff immer einen Bezug zu unserem Alltag hier hat.
Nach dem Unterricht sitze ich in meiner Koje, neben den Duschen einer der wenigen Plätze, wo man Privatsphäre an Bord hat. Die Koje ist zwei Meter lang, 70 cm breit und ich kann gerade aufrecht darin sitzen. Durch einen selbst installierten Vorhang bin ich vor den Blicken der anderen verborgen. An den Wänden hängen die Briefe meiner Familie, die ich für ein halbes Jahr fast vollständig hinter mir gelassen habe, denn nur an Land ist der Kontakt per Post, manchmal auch per Telefon oder Internet möglich. Da hängt der Taufschein meiner Atlantiktaufe, einem alten Seemannsritual, bei dem man beim Überqueren einer bestimmten Linie von Neptun von der Erde Staub gereinigt wird und einen neuen Namen erhält, meistens den eines Fisches. Meiner ist Lotsenfisch. Da hängt meine Geburtstagskarte. Eine Lufthansa-Kotztüte. Ein Stück altes Segeltuch - lauter Dinge aus den letzten fünf Monaten, die mir wichtig sind. Unter der Lampe hängen Fotos von zu Hause. Weihnachten ohne mich und der 18. Geburtstag meines Bruders, bei dem ich nicht da war, denn zu dieser Zeit war ich vor der Küste Panamas unterwegs, um dort etwas über die Kultur der Kuna-Indianer zu lernen, und über deren großen Probleme mit der Globalisierung und dem Tourismus.
Man muss auf vieles verzichten Das alles, Wachbetrieb (sechs Stunden am Tag, in denen ich mit einer von vier Wachgruppen das Schiff steuere und für die Segel zuständig bin), Backschaft (einen Tag lang kochen und abspülen für die gesamte Mannschaft), die Arbeit in den Masten, das Segeln, das alles ist schon längst alltäglich für mich. Auch an die kleinen Entbehrungen, die zwangsweise mit dem Leben an Bord verbunden sind, habe ich mich längst gewöhnt. Zum Beispiel, dass ich nicht täglich duschen kann oder uns das Nutella inzwischen ganz ausgegangen ist.
Auch die Beschwernisse, wie nachts um halb zwei geweckt zu werden, um dann drei Stunden frierend an Deck zu stehen und dieses 50 Meter lange Wesen aus Stahl zu bändigen, machen mir nichts mehr aus. Im Gegenteil: Ich freue mich auf die Nachtwachen, und wenn man anfangs noch eine halbe Ewigkeit brauchte, um mich zu wecken, so bin ich heute sofort wach und erkundige mich nach dem Wetter, um meine Ausrüstung für die Wache anzupassen. Feste Schuhe und Klettergurt sind Pflicht, und wenn wir durch Wellen oder Regen viel Wasser an Deck haben, begibt sich niemand mehr ohne Ölzeug an Deck. Liegen ist während der Wachzeit, in der sich die ganze Fahrwache auf dem Achterdeck aufhält, verboten, damit man nicht einschläft, denn bei einem starken Böeneinfall (also plötzlichen, sehr starken Windböen) müssen innerhalb von Minuten die obersten Segel geborgen und die Segelfläche auf ein Minimum verringert werden.
All dies ist nicht leicht, es ist mit viel Arbeit verbunden. Meine Eltern und meine zwei Brüder habe ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Außerdem gibt es Seekrankheit, an Bord herrscht durch das Schaukeln ein erhöhtes Verletzungsrisiko. Es gibt selten das zu essen, was man gerade möchte, und wenn, dann nur rationiert. Aber all das ist es wert, denn alle Entbehrungen werden um ein Vielfaches aufgewogen durch die Erfahrungen mit der Gruppe, mit mir selbst, mit dem Schiff und durch all diese Momente des Glücks und der Freude, die ich hier mit meinen Freunden erlebt habe. Wenn mich jemand fragte, ob ich das alles noch einmal auf mich nehmen würde, so würde ich ohne zu zögern antworten: Auf jeden Fall.
Mehr über das KUS-Projekt gibt es im Herbst auch im Fernsehen: Ab 22. November 2010, montags bis freitags, 15.50 Uhr im Ki.Ka. "Klasse Segel Abenteuer" heißt die Produktion der Bewegte Zeiten Filmproduktion GmbH im Auftrag des Bayerischen Rundfunks.