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Schule zwischen Wind und Wellen
27. Dezember 2010, 16:31 Uhr aktualisiert am 27. Dezember 2010, 16:31 Uhr
32 Schüler überqueren im Rahmen des Projektes "Klassenzimmer unter Segeln" der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg auf der traditionellen Thor Heyerdahl den Atlantik auf dem Weg in die Karibik und wieder zurück - ein halbes Jahr unterwegs auf den Weltmeeren, weit weg von ihrem Zuhause.
Wir sitzen in 25 Metern Höhe über dem Atlantik. Nichts als satte Blautöne, so weit das Auge reicht.so viele unterschiedliche Facetten einer einzigen Farbe. Doch wir lernten bald, dass unsere Umgebung nicht nur blau ist, sondern so vielfältig, wie die Farben an Land. Auch wenn wir nur von Himmel und Meer umgeben sind. Von unserem luftigen Platz erscheint der Atlantik heute sehr friedlich, aber das kann sich schnell ändern. Jeden Morgen ist es spannend, welches Bild uns die See von sich zeigt. Noch nie zuvor konnten wir so endlos bis zum Horizont sehen, ein Gefühl von Freiheit überkommt einen jeden von uns.
Wir sind über den Atlantik gesegelt. Eine Strecke, die man heutzutage schnell per Flugzeug zurücklegt, haben wir nur mit unserer Muskelkraft und der Kraft des Windes in circa drei Wochen bezwungen. Hier sind wir also und erobern mit unserer Thor die Karibik. Auf den hohen Wellen schaukelt der 50 Meter lange und sechs Meter breite Dreimaster sanft hin und her.Von hier oben haben wir einen wunderbaren Ausblick. Gut gesichert, im Rigg zu sitzen ist jedes Mal ein Erlebnis für sich, bei dem man das bisher Erlebte einmal Revue passieren lassen kann. Das lockt bereits jetzt unendlich viele Eindrücke und Bilder hervor: zum einen die stürmische Nordsee, die wir - wie auch die Seekrankheit - erfolgreich bekämpft haben, oder auch den Pico del Teide, den wir auf Teneriffa bezwungen haben, und nicht zuletzt die vielen Nachtwachen an Bord.
Wir lassen unsere Gedanken schweifen. Von unten hört man nur schwach die Stimmen der anderen Besatzungsmitglieder. Auf der Ladeluke sitzen drei Schüler und lernen. Aus der Kombüse hört man Musik und auf dem Achterdeck wird gelacht. Wenn man bedenkt, dass wir vor ein paar Wochen noch nicht einmal wussten, was ein Achterdeck ist, kommt uns die Zeit hier so unendlich lange vor. Es ist so viel passiert, seit wir im Oktober in die Werftzeit gestartet sind.
Segeln will gelernt sein
32 Schüler ohne Segelerfahrung sahen vor zwei Monaten in Kiel zum ersten Mal die Thor, die nun für ein halbes Jahr ihr Zuhause sein sollte. Damals herrschte an Bord noch ein großes Chaos. Wir räumten alles auf, strichen, reparierten, verstauten Proviant und bezogen unsere Kojen. Trotz der vielen Arbeit spürte Wir spürten alle, dass die Thor uns sicher über den Atlantik bringen würde und diese Fahrt das wahrscheinlich genialste, spannendste und erlebnisreichste Abenteuer unseres Lebens werden würde. In Kiel war uns das Schiff noch ziemlich fremd und wenn wir jetzt hinunter blicken, ist sie es wahrlich nicht mehr. Wir sind eine große Familie geworden. Das Zuhause dieser Familie ist die Thor.
Ein Segelstamm bildet uns seemännisch aus. Der Stamm übernimmt außerdem die wichtigen Positionen im Wachbetrieb, wie Wachführer, Bootsmann, Maschinist oder Proviantmeister. Um das alles zu organisieren, braucht man eine Schiffs- und Projektleitung. Unser Kapitän ist Detlef Soitzek. Die Projektleiter, Dr. Ruth Merk und Günther Hoffmann, kümmern sich um alles, was die Besatzung betrifft, die Schule und die Organisation der Landaufenthalte.
Die Augen immer auf den Horizont gerichtet, haben wir mit unserem neuen Zuhause schon einen ziemlich langen Weg zurückgelegt: von Santa Cruz bis Teneriffa und über den Atlantik. Aber KUS ist eigentlich viel mehr als nur dieses Schiff voller Menschen, das den Atlantik überquert: Wir Schüler wachsen an den Aufgaben, die uns gestellt werden, lernen selbständig zu sein und zu handeln; man könnte fast sagen, wir werden erwachsen auf der Thor.
Jedes Besatzungsmitglied muss täglich sechs Stunden Wache gehen, aufgeteilt in drei Stunden Tag- und drei Stunden Nachtwache. Dadurch gibt es vier Wachgruppen mit jeweils acht Schülern, einem Lehrer, Wachführer und Wachführerassistenten. Während der Wache muss man die Segel bedienen, Ruder und Ausguck gehen, Sicherheitsrunden durchs Schiff machen und navigieren. Das alles war zu Beginn der Reise ziemlich viel und unbekannt, doch mittlerweile sind wir in den meisten Bereichen routiniert und eingespielt. Dies liegt an der nautischen Ausbildung, die wir auf der ersten Etappe von Kiel bis Teneriffa durchlaufen haben. Inzwischen sind wir schon so weit, dass uns der Stamm zutraut, für zwei Tage das Schiff ganz alleine zu segeln. "Schiffsübergabe" nennt sich dieses Ritual auf der Thor. Es findet dreimal während unserer Reise statt, immer etwas länger und anspruchsvoller als zuvorDabei werden wir alle wichtigen Positionen übernehmen, zum Beispiel Schülerkapitän, Schülersteuermann, mehrere Schülerwachführer, Schülerproviantmeister, Schülerbootsmann, usw. Nur bei wirklich gravierenden Fehlern, die unsere Sicherheit gefährden, würde der Stamm eingreifen.
Nasse Füße beim Unterricht
Unsere erste Schiffsübergabe fand auf dem Weg durch die vielen kleinen Inseln nach Palm Island, unserem Ziel nach dem Atlantik, statt. Und tatsächlich schafften wir es ohne Probleme nachts um 1 Uhr in der Karibik vor Palm Island anzukommen, wo wir alle Segel bargen und dann ankerten. Wir ganz allein segelten die Thor Heyerdahl sicher in die neue Welt.
Heute können wir gemütlich hier oben sitzen, denn die erste Unterrichtsetappe ist vorbei. Fünf Lehrer versorgen uns an Bord mit dem nötigen Wissen, damit wir nach unserer Reise den Anschluss in der Schule nicht verpassen. Die vergangenen drei Wochen hatten wir jeden zweiten Tag Schule. Das hieß: Um 7.30 Uhr aufstehen und frühstücken, um 8.35 Uhr begann der achtstündige Unterricht. Er fand draußen an Deck statt, auch bei Seegang und Wind. Es kam schon öfter vor, dass wir dabei nasse Füße bekamen. Aber das ist nicht weiter schlimm, da es sowieso immer warm ist. Trotz der zum Teil ungewohnten Verhältnisse werden in jedem Fach während der gesamten Reise ein Test geschrieben und mündliche Noten gemacht. So bekommt jeder Schüler am Ende auch ein Zeugnis.
Doch das wird nicht das Einzige sein, das uns von dieser Reise bleibt. Wir lernen Hand in Hand zu arbeiten, erkennen unsere Stärken und Schwächen, sehen neue Länder und entdecken fremde Kulturen. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass wir hier für unser Leben lernen -- im "Klassenzimmer unter Segeln".
Unter www.kus-projekt.de schreiben alle Besatzungsmitglieder übrigens regelmäßig Tagebuch. Mitlesen und mitfiebern.